November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Tagen eine Zeitung zu kaufen, fand darin eine entrüstete Replik der Berliner Regierung, die sich zur Verwunderung vieler »Reichsregierung« nannte, daß sie diesen Funkspruch für eine unberechtigte Einmischung in deutsche Verhältnisse halte. Eine andere amtliche Stelle fügte zu dieser Erklärung noch einen gewissen Hohn; sie meldete, die russische Räteregierung habe der neuen deutschen Volksrepublik Getreidesendungen angeboten und auch schon zwei Züge mit Mehl abgehen lassen. Die Russen hätten hinzugesetzt, daß sie Deutschland dauernd aus den reichen Getreidevorräten besonders des Kubangebiets aushelfen könnten. Nun, dieses edle Angebot, hinter dem selbstverständlich ein guter Wille (hm hm) stehe, das nehme man mit Vergnügen zur Kenntnis und an. Jedoch: es sei fraglich, ob die russische Räteregierung überhaupt die Verfügungsgewalt über das genannte Land habe. Denn grade im Kubangebiet habe sich, wie man eben erfahre, eine eigene Regierung unter Sasonow gebildet. Da ziehe man es vor, um die Räteregierung nicht in Schwierigkeit zu bringen, mit Dank abzulehnen.
Der erste Schnee fiel in Berlin am Montag. Er hielt nicht lange. Gegen Mittag erfüllte Nebel die Straßen, so daß die Elektrischen mit Licht fahren mußten, der Schnee löste sich auf.
Über den Ärmelkanal von England herüber schrie die Northcliffepresse: »Hunnen winseln nach Brot, keinerlei Nachsicht gegen die Hunnen, Deutschland kann zahlen, wenn die Alliierten Schneid haben.« Ein Politiker, Arthur Balfour, tobte: sie haben den irischen Postdampfer Leinster bei Kingstown noch elf Tage nach der Bitte um Waffenstillstand torpediert, vierhundertfünfzig Menschen sind tot, die Deutschen waren immer Rohlinge und werden es bleiben. Die Stimme des Balladendichters Rudyard Kipling gellte herüber: »Volk mit dem Herzen eines wilden Tieres.«
Sie machten sich gegenseitig die Rechnung ihrer Toten und Verwundeten auf und sprachen aus, was sie während des Krieges nicht verraten hatten. Sie taten beide so, als dürften sie im Namen der ewig stummen Toten sprechen. Auf englischer Seite gab es 670 986 Tote, 1 041 000 Verwundete, 350 243 Vermißte. Aber es werden noch viele an den Wunden sterben, wegen derer sie jetzt in den Hospitälern liegen, und nicht gezählt sind die Zivilen, die an Kriegsseuchen zugrunde gegangen sind und deren Leben durch den Jammer und Kummer des Kriegs verkürzt werden wird.
Die Deutschen weisen ihr Unglück vor: 1 580 600 sind tot von ihren Männern, fast vier Millionen verwundet, vermißt werden 260 000 Menschen. Und nicht gesprochen wird auch hier von den Hunderttausenden, die in der Heimat an Kriegsseuchen gestorben sind, noch melden sich die vielen Tausende, die langsam unter den Entbehrungen der Blockade eingegangen sind. Tausende werden noch an ihren Wunden sterben, Zehntausende liegen verkrüppelt da oder sitzen blind in den Stuben der Asyle herum.
Der Nebel ballte sich in dichten und dichteren Schwaden in Berlin. Er färbte sich mit dem Rauch der Schornsteine und wurde gelb wie die Luft in London.
In diesen Nebel hinein geriet der Leutnant Maus, der am Dienstagmittag ankam. Er hatte sich sofort nach der Ankunft in dem Hotel, das ihm zugewiesen war, von seinem Freund Becker verabschiedet. Der war angestrengt von der Reise und wollte sich in Naumburg noch für ein paar Tage in ein Krankenhaus legen. Maus aber erwartete Briefe aus Straßburg. »Bleib nicht zu lange, komm bald nach Berlin«, drängte er Becker. »Gewiß, mein Junge. Und du verrätst mich nicht bei meiner Mutter.« Und wie der Blitz Maus die Treppe herunter.
Weder Vater noch Mutter waren zu Hause, als er in der Dresdener Straße ankam. Das Dienstmädchen sagte, der Herr Legationsrat sei auf seinem Amt, und die Mutter komme erst am Abend, sie sei in Steglitz bei Verwandten. Maus flog in sein Zimmer: Nichts. Sein Schreibtisch leer.
»Sind keine Briefe in den letzten Tagen angekommen?« »Zwei von der gnädigen Frau an den Herrn Leutnant sind zurückgekommen. Sie hat einen Schreck gekriegt, daß Herr Leutnant sich nicht meldete.«
Maus ließ sich auf einem Stuhl nieder. Er hatte es nicht geglaubt. Sie hatte es doch krummgenommen. Sie verzieh es ihm nicht. Nicht eine Zeile.
»Soll ich für Herrn Leutnant Frühstück bereiten?« »Lassen Sie mich in Ruh.« Er warf die Mütze auf den Boden. Sie glitt hinaus. Er riß sich den Mantel auf, zog ihn aus, warf ihn aufs Sofa. Er marschierte herum, voll Zorn. Das war zuviel. Was sich die Weiber erlaubten.
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