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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Was nahm sich Hilde heraus? Ihn so zu empfangen, zu Hause, ohne ein Wort.
    Er riß die Tür auf und rief heraus: »Bringen Sie Frühstück.« Starr, geladen saß er am Tisch und ließ vor sich decken. Das Mädchen wagte kein Wort. Der Leutnant war ärgerlich, weil die Mutter ihn nicht empfing. Er aß und trank, ohne es zu bemerken. Dann ging er an seinen Schrank und kleidete sich zivil. »Student der Rechte Johannes Maus, Schulterverletzung«, sagte er vor dem Spiegel. Der Arm taugte noch immer nichts.

    Ich aber, dachte Becker in Naumburg, allein auf seinem Zimmer, einem grauenhaft leeren, blau tapezierten, ungeheizten Zimmer – ich täte am besten, mich in einen Sarg zu legen.
    Der Krieg ist zu Ende. Ich kann nicht leben, ich kann es nicht, ich kann es nicht.
    Und überwältigt von Abscheu vor allem, was er sah und kommen sah, ballte er die Fäuste und knirschte. So müßten sie mich sehen, meine Leute aus dem Lazarett, ihren Gott, ihren Götzen. Seine Fäuste blieben hart, seine Zähne knirschten, dabei schlug sein Gefühl um. Sie sollen mich nur sehen, ich lasse mich nicht beschämen, ich halte durch.
    Und Maus war noch nicht eine Viertelstunde aus dem Hotel, da verließ es Becker. Er lag diesen Tag im Krankenhaus, ein Chirurg und ein Nervenarzt fanden sich nachmittags ein, erklärten den örtlichen Befund am Kreuzbein für ausgezeichnet, im übrigen wäre alles weiterzumachen wie bisher, elektrische Behandlung, Übungen, allgemeine Kräftigung. Dazu könnte er auch zu Hause wohnen. »Viel hängt von Ihrem Willen ab, Ihrer Zähigkeit, Herr Oberleutnant.« Mehr wollte er nicht hören.
    Am Tage nach Maus, es war Mittwoch, der 20.November, war Becker auch in Berlin. Er war nicht angemeldet. Seine Mutter machte ihm auf.
    Er stand da, aufrecht, am Arm eines Sanitäters, den man ihm an der Bahn mitgegeben hatte und der seine Koffer und seine beiden Stöcke trug. Die starke Frau, die ein volles jugendliches Gesicht und noch dunkle Haare hatte, starrte ihn im Türrahmen an. Dann zog sie ihn wortlos in den Korridor und fiel um.
    »Setzen Sie mich auf einen Stuhl, Scholtz, dann heben Sie meine Mutter auf. Lassen Sie die Tür ruhig auf.«
    Er saß in dem alten gasbeleuchteten Korridor, die Mutter, eine dunkle Küchenschürze umgebunden, lag auf dem Boden. Sie war dem kleinen Wärter zu schwer, er ließ sie liegen und lief nach Wasser.
    Will ich denn, will ich denn, fragte sich Becker. Er sah seine Mutter noch immer liegen, – ich kann nichts dazu tun, – und es rührte ihn nicht, – mein Gefühl ist hin, ich habe kein Gefühl mehr, ich bin also doch gestorben. Da bewegte sie sich, der Wärter spritzte sie mit Wasser an. Überraschend schnell richtete sie sich auf, ohne Hilfe, stand da, sagte: »Ach Gott«, und ging in die Küche, um sich abzutrocknen. Becker lächelte den Wärter an: »Sie haben eine Überschwemmung angerichtet mit der Karaffe. Sie wollen wohl Ihre Kranken ersäufen.«
    Einen Arm gehalten von der Mutter, den andern vom Wärter, so machte Becker, wie er fröhlich sagte, seinen Einzug in das mütterliche Haus. Sie schoben ihm Kissen unter und setzten ihn auf das Sofa, dann verschwand die Mutter, um Kaffee zu bringen («wirklichen Kaffee«, sagte sie mit wehmütigem Augenzwinkern). Währenddessen plauderte Becker mit dem Sanitäter, der sich als vernünftiger Mann erwies. Er hätte ihn gern für gelegentliche Bedienung, Begleitung gehabt; aber das ginge wohl nicht. »Sie haben am Bahnhof Ihren Dienst?« »Nur bis zwei Uhr mittags, Herr Oberleutnant, und außerdem wechselt das. Ich bin Heilgehilfe im Norden. Wenn Sie wollen, komme ich ins Haus, aber Apparate habe ich keine.« Das war eine erfreuliche Nachricht. Der Mann wurde bestellt; er wollte gehen, während die Mutter mit dem Kaffeetablett kam. Sie hatte drei Tassen und blickte fragend auf den Sanitäter. Er setzte sich gern zu ihnen und erzählte von seinem Sohn, der auch unterwegs sei. Aber die mobilen Truppen werden ja wohl erst Anfang Dezember einrücken, aus Frankreich und Belgien geht es Schritt für Schritt. Nach dem Kaffee verabschiedete er sich. Die Mutter brachte den Mann an die Tür und verabredete mit ihm leise die Zeit seiner Besuche.
    Währenddessen fiel über Becker eine Wolke. Seine Ohren wurden mit dicker Watte verstopft; aus seinem Kopf, dicht hinter der Stirn und um die Schläfen herum, wichen alle Gedanken, und an ihre Stelle trat eine schwingende warme Luft. Die Stirn fühlte er heiß, die Hände glühten und waren groß und wie

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