November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
geschwollen. Als die Mutter eintrat, kam sie wie durch einen Nebel. Er kannte das. Es war der Dämon. Er verstand mühsam, was die Mutter sprach. Ihm war Seele und Vernunft gestohlen. Nur um etwas zu sagen und seinen Zustand zu verbergen, Zustand völligen Leerseins, bat er die Mutter, sie möchte ihn in sein Arbeitszimmer führen. Glücklich nahm die Frau seinen Arm. Sie legte im langsamen Gehen ihren rechten Arm um seinen Rücken, der linke ergriff seinen linken, und führte ihn sicher durch die Tür. »Wie groß du bist, Friedrich. Oder bin ich kleiner geworden.« Er lächelte leer, sie darf nicht wissen, daß mich der Dämon hat, warum hat er mich gleich gefaßt, wie ich hier bin, ich bin ihm seit Jahren nicht begegnet.
Da saß er auf seinem Schreibstuhl, eine Art Schemel mit großer breiter Rückenlehne. Sie lief und brachte ein grünes dickes Sofakissen. Auf dem Schreibtisch lagerten links und rechts Bücherstapel, in der Mitte auf der Schreibunterlage Briefe. Aber er sah es nur. Der Dämon hatte ihn. Er war wie eine Fliege von einer Spinne ausgesogen und saß da als leeres Gehäuse. Er konnte manches flüchtig denken – das war ihm erlaubt –, sich hilflos fühlen, er bemühte sich gequält, zu entziffern, was die Mutter sprach, die sich vor ihn gesetzt hatte und seine Hände hielt und ihn von unten betrachtete, und es schien ihm auch, als ob er antwortete, ohne daß sie etwas bemerkte. Er konnte sagen, sie möchte ihn für eine kleine Viertelstunde auf sein Sofa legen, dann würde er zur Verfügung stehen.
Und die Frau führte ihn selig herüber, half ihm den Uniformrock ablegen, zog ihm die Stiefel aus. Er wollte sich schon legen, da lief sie, brachte wieder Kissen aus seinem Bett und legte sie in die Mitte des Sofas, ah, sie verstand gut, was er nötig hatte. Dann lag er, sie drückte ihm die Hand, er hörte sie auf dem Korridor schluchzen.
Der Dämon brauchte über eine halbe Stunde, um sich zu sättigen und zu weichen. Diesmal schluckte er sein Opfer so mit Haut und Haaren, daß Becker sich bezwingen mußte, um nicht zu winseln. So nur Schale zu sein, so keinen Gedanken fassen zu können, kein Gefühl zu haben, wer man ist, kaum zu wissen, wie man heißt.
Er war tief zufrieden, als über seine Augen, über Stirn und Lider eine kühle Müdigkeit lief und sich rasch über Arme und Beine ausgoß. Er war müde. Er wünschte zu schlafen. Und er schlief.
Er bemerkte nicht, daß die Mutter nach einer Stunde hereinkam, ihn liegen sah, bei ihm saß, ihn beobachtete und beobachtete. Dieses weiße ausgemergelte Gesicht. Was muß er gelitten haben. Aber er spricht nicht, er schreibt nicht, er will keine Hilfe, er will nicht bemitleidet sein, ich kenne ihn. Er war fast gestorben, er ließ mich nicht kommen. Was mag es sein, daß er jetzt doch nach Hause gekommen ist. Vielleicht fühlt er sich sehr krank und will Hilfe. Friedrich, wie er lachen konnte, wie er sonnig war. Alle hingen an ihm. Da ist er, mein Einziger.
Er schlief, sein Gesicht rötete sich leicht. Als sie wiederkam, lag er auf dem Bauch, den Kopf aufgestützt und blickte zu ihr hin. Er setzte sich auf. Alle Dinge sprachen wieder, hatten einen Namen. Wie gut es ist, daß die Dinge Namen haben.
Er sagte zur Mutter – sie freute sich über seinen Ton, es war das alte sichere Tändeln, er hatte offenbar gut geschlafen: »Mutter, ich weiß aus der Bibel, daß sie anfing, wie Gott Himmel und Erde schuf, aus einem völlig wüsten und leeren, unbrauchbaren Zustand. Und dann geht es weiter: er sprach.« Die Mutter: »Richtig. Es werde Licht.« Friedrich: »Er sprach. Und danach wurde es Licht.« Die Mutter lachte: »Nun, es ist doch der Herrgott.« Friedrich: »Der Herrgott, der Herrgott, es ist sein Problem: wie zeigt er sich als Herrgott, welche Mittel wendet ein Herrgott an? Würdest du beispielsweise, Mutter, wenn du dich in solcher Situation befändest, schlimmer als Robinson Crusoe, in einer grauenhaften Situation, nur umgeben von Wüste und Leere, von völliger Finsternis (nicht an den Dämon rühren, ich bin ihm entwichen), würdest du da wissen, wie dich benehmen? Was würdest du anfangen, zwischen lauter Wüste? Würdest du auf den Gedanken kommen zu – sprechen? Etwas zu sagen, den Mund zu öffnen, ein Wort zu bilden und davon eine Wirkung erwarten? Voilà: Gott – spricht! Ich lege nicht den Akzent darauf, was er sagt, sondern daß er auf das Sprechen verfiel. Ein großartiger Vorgang.«
Die Mutter: »Ich sehe, mein Sohn Friedrich würde
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