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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Hand der Mutter: »Von welcher Niederlage sprichst du?«
    »Von jetzt, von 1918.«
    »Die Niederlage liegt weiter zurück. Ich habe ihre Wurzeln noch nicht. Man kann besiegt werden, man erliegt aber nicht, und nicht so. Das ist entlarvend. Sie konnten nicht sterben, sie fürchteten den Tod wie Bürger. Sie hatten nicht die gehörige Beziehung zu Tod und Leben.« Und nach einiger Zeit fügte er hinzu: »Sie waren unecht.«
    Die Mutter saß stumm in seiner Betrachtung. Sie war tief froh, ihn zu sehn, zu hören und da zu haben. Sie verstand ihn nicht. Er quälte sich. Ach, er war krank, gelähmt. Es würde sich schon langsam bessern.
    Bitterkeit, bitterste Bitterkeit, wann wirst du meine liebe Schwester sein.

Beisetzung der Revolutionsopfer
    Der Nebel liegt über Berlin. Eine lange Straße zieht von den Linden bis zum Halleschen Tor, annähernd parallel der lärmenden und zweifelhaften Friedrichstraße: die Wilhelmstraße. Sie hat vornehme Gebäude in ihrem nördlichen Teil, bevor sie die Leipziger Straße, die flutende Geschäftsstraße schneidet. Im südlichen Teil läßt sie sehr nach, und wenn man sich dem Halleschen Tor nähert, so treten ärmliche und kleinbürgerliche Figuren aus den Häusern und stehen in den dunklen Fluren. Die Frauen und Männer, die vor den schmutzigen Häusern herumstreichen, woran erinnern sie doch, nicht an die Friedrichstraße, dazu sind sie nicht geputzt genug, mehr an Spelunken, Schiebertum, an Leute, die Grund haben, sich zu verstecken.
    In einem dieser niedrigen Häuser der unteren Wilhelmstraße, in einem breiten niedrigen Zimmer, das nach dem finstern Hof zu führte, brannte noch am Vormittag Licht. Die Wirtin, die diesen Raum und den anstoßenden Salon an Herrn Brose-Zenk abvermietet hatte, sah durch die obere Milchglasscheibe der Tür das Licht brennen. Sie dachte an den Nebel, den Hof. In jedem Fall machte sie nur verächtlich »hm« dazu. Entweder hatte der dicke Kerl einen Rausch und schläft noch, natürlich ohne das Licht auszudrehn, oder er hat ein Weib bei sich und macht Illumination.
    Wirklich ruhte Herr Brose-Zenk. Er hatte drei Nächte hintereinander gespielt, bis fünf Uhr morgens, und hatte Glück gehabt. Erschlagen von der Aufregung, die er so liebte, herrlich erschlagen trug ihn eine Nachtdroschke von der Fasanenstraße zu der Wilhelmstraße. Er steckte das Licht an, im Wagen hatte er schon geschlafen, jetzt warf er Hut und Pelzmantel ab, die Stiefel runter. Und so mit Jacke, Hose, den Kragen mit Gewalt aufgerissen, ließ er sich in die Klappe fallen. Er lutschte noch in Gedanken an einer Zigarre, die ihm eben aus dem Mund gefallen war, schlief ein.
    Ob der Kerl tot ist, überlegte die Wirtin in der Küche. Ihr war zwei Jahre vor dem Krieg im selben Zimmer so etwas passiert, ein feiner Herr hatte sich da aufgehängt, der erst eine Woche bei ihr wohnte; die einen sagten, wegen Schulden, die andern, wegen einer Kriminalsache. Sie ließ ihre Rüben stehn, trocknete die starken Hände und zog mit hartem Schritt auf den Korridor hinaus. Sie konnte es mit jedem Brose-Zenk aufnehmen. Wenn der etwa etwas angerichtet hatte, in ihrer Stube, sich aufgehängt oder was beschmutzt, dann würde sie ihm, lebend oder tot, eins versetzen. Sie war in den Fünfzigern und ehemals reizvoll, jetzt mehr fett. Sie arbeitete an sich mit Bädern und Korsettagen, an ihrem gewaltig, üppig und üppiger anschwellenden Körper. Sie war früher so schlank und elegant gewesen, ein Liebling sehr vieler Männer. Ihr Körper war wie ein Acker, der eine Zeitlang nichts hergab – und jetzt so viel, daß man keine Hände hatte, um alles Korn einzuholen. Sie horchte an seiner Tür, über der sich das verhängnisvolle Licht zeigte. Schlief nun der Kerl, oder war er tot? Es war elf Uhr vormittags, für Licht war ein Pauschalbetrag vereinbart, das ging natürlich über die Hutschnur. Sie hielt sich mit dem Horchen nicht lange auf, aus einem einfachen Grund: sie hörte nur ihr eignes Schnaufen und konnte sich schlecht zum Schlüsselloch beugen. Sie klopfte leise, dann energisch, dann – zögerte sie. Den Anblick des Toten am Fensterriegel würde sie nicht ertragen. Was dann? Auf die Wache. Sie kannte in der Hegemannstraße einen Beamten vom Innendienst, mit dem beriet sie sich gelegentlich über fragwürdige Mieter, die während des Krieges bei ihr auftauchten und Spione sein konnten, man war auf der Polizei für solche Hinweise sehr empfänglich. Und nach zehn Minuten trat sie wieder ein, mit dem

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