November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Maire. Viel Glück. Sie hatten eine Tribüne auf dem Platz errichtet, da saßen und standen Offiziere und Gäste. Und schließlich langte auch der Paradezug auf der Theaterbrücke an. General Gouraud lenkte sein Pferd vor die Tribüne, worauf der Vorbeimarsch anfing. Die Leute neben mir grölten schon alle Märsche mit, die die Militärmusik spielte, Sambre et Meuse, die Marseillaise, Chant du départ. Kommentar überflüssig. Maringer heißt der Oberkommissar, den die Franzosen für die Zivilbehörde ernannt haben. Und als die Soldaten mit ihrem Vorbeimarsch fertig waren, stellten sich bei diesem neuen Herrn Maringer an der Tribüne ein paar piekfeine Damen aus der Straßburger Gesellschaft vom Roten Kreuz ein und überreichten ihm eine historische Fahne. Ich weiß aber nicht, warum sie historisch ist. Wobei sich ein großes Geschrei erhob. Aber der Höhepunkt war erst, als der Kommandant das Signal ›Aux drapeaux‹ blasen ließ. Da entblößten sich alle Häupter, die Musik spielte, die Fahnen senkten sich, und – das Herz stand uns still – auf dem Kaiserpalast stieg die Trikolore hoch. Liebe Friederike, es war für uns beide ein furchtbarer Moment. Wir hatten auch jeder unsere Mütze in der Hand, wir sahen uns nicht an, aber jeder von uns weinte in seine Mütze.
Die Leute erzählen dann noch von diesem auch mir unvergeßlichen Tag, daß Gouraud, der General, hinterher auf die Mairie am Broglie geführt wurde, wo man tafelte. Eine Dame soll ihm einen Strauß im Namen der Straßburger Frauen überreicht haben. Seine Antwort lautete: Nach meiner Hochzeit war dies der schönste Tag meines Lebens.
Friederike, es ist zum Heulen und Schreien. Solch Unglück ist uns deutschen Männern widerfahren. Denn die ganze Welt hat sich gegen uns aufgestellt, und weil ein einzelner Gegner den Siegfried nicht fällen konnte, sind sie zu zehn zusammengelaufen, mit Negern und Amerikanern, und haben ihn erlegt. Sie sollen an ihrem Hagenstreiche keine Freude erleben.
Der schlechte Mann, der sich zum Bürgermeister für die Franzosen hergab, hat im Rathaus den Fremden geschmeichelt und ist ihnen um den Bart gegangen: ein überaltertes und hassenswertes Regime habe Elsaß-Lothringen lange terrorisiert. Achtundvierzig Jahre der Sklaverei seien vorbei. Das kannst Du hier in den Zeitungen lesen. Es gibt sogar schon französische. Und der neue Oberkommissar antwortete und redete von der ›Mutter Frankreich‹. Am Abend bekamen die Soldaten Freibier.
Diesen so lang geratenen Brief, mein treues Weib, wollte ich heute Kundt mitgeben, aber er spaziert erst morgen, ich weiß nicht warum. Und da muß ich Dir noch eine traurige Mitteilung machen. Unser gemeinsamer Freund, der junge Konrad Witz, der mich noch gestern begleitete und bei mir wohnte, ist in die Fremdenlegion eingetreten. Teile dies bitte seinen Eltern mit! Es ist hier ein Kolonialregiment eingezogen, wobei man auch Neger sieht. Konrad ist nach der gestrigen großen Parade sehr stille geworden. Ich sagte ihm, er müsse, wenn Kundt geht, mit dem über den Rhein, es wird hier zu gefährlich. Er sah mich an und war gleich grantig und fragte, was er drüben solle. Dann hat er auch Freunde aus Vendenheim in der Legion getroffen, und heute früh glaube ich, der Schlag trifft mich, sie haben ihn überredet, und er ist Fremdenlegionär geworden. Und er behauptet, das bliebe er nicht lange, denn seine Eltern sind zwar Reichsdeutsche, aber er sei im Elsaß geboren und würde bald richtiger französischer Staatsbürger werden. Worüber ich die Wut bekam und ihm gratulierte, er aber ebenso wütend antwortete, er wolle nicht nach Deutschland herüber, um denen ihre Lumpenrevolution mitzumachen. Und er blieb fest, und ich hätte den Abtrünnigen niedergeschlagen, wenn er sich nicht schleunigst verzogen hätte.
Diesen Brief gebe ich jetzt an Kundt, der eben erscheint. Nimm Kundt gut auf.«
Der Justizrat sucht seinen Sohn
Das Hotel Paris war an dem Abend des Gouraudeinzugs gradezu ein Kunstwerk an Beleuchtung, patriotische Züge formierten sich nach dem ehemaligen Kaiserplatz, wo das Denkmal Wilhelms gestürzt war. Ein alter abgerissener Mann saß in der Dunkelheit am Gutenbergplatz und erklärte unentwegt: »Ich hab’s gewußt, sie kommen heute.« Der Telegraphist Wolter zeigte sich auf dem Platz, in hohen Schaftstiefeln. Er hatte vor dem Krieg mit einem fingierten Kaisertelegramm die gesamte Straßburger Garnison alarmiert, sie wartete stundenlang mit allen Offizieren vergeblich auf ihren
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