November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Fremdenregiment. Und – da sah er ihn.
Er schrie, schrie »René«, das heisere Rufen eines alten Mannes, der immer leise gesprochen hat. Es war ein Reiter. Er war schon vorbei. In der Umgebung ein Winken und Weinen. Keiner fragte: »War er es wirklich?« Die ganze Strecke des Weges verbreitete sich das Gerücht: ein Elsässer, ein alter Mann, hat seinen verschollenen Sohn unter den Truppen wiedergefunden.
Der Justizrat wurde aus der Menge von Sanitätern herausgeführt; sein zerfaltetes pergamentgraues Gesicht hatte hundert neue Runzeln angelegt, er verkündete: »Es war mein Sohn, bei den Fremdenlegionären.« Man beruhigte ihn auf einer Ambulanz, er erklärte, er werde gleich in die Kaserne des Regiments gehen; man ging vorsichtig mit ihm um, sagte, er solle vielleicht bis nach Mittag warten, die Leute stellen sich erst ein, ob er nicht einen Begleiter wünschte und so weiter. Er willigte ein, einen Sanitäter anzunehmen, der ihn ins Hotel begleiten und gegen zwei Uhr zu der Kaserne abholen sollte.
Sie zogen nun zu zweit in die Kaserne, die Truppen kamen eben erst von der Parade zurück, die Zimmer des Colonels und seines Büros waren nicht zu finden. Aber zum Erstaunen des Sanitäters blieb der Justizrat geduldig. Und als die beiden um fünf Uhr wieder erschienen, stellte es sich heraus, daß sie keineswegs die einzigen waren, die in dem Regiment ihre Söhne oder Brüder oder Väter suchten. Auf dem Korridor lief verzweifelt der Adjutant hin und her zwischen den vielen bekümmerten Männern und Frauen, er rief, französisch: »Aber, liebe Leute, wir sind doch nicht die ganze Fremdenlegion. Ihr müßt euch gedulden, ihr müßt schreiben, an das Büro.« Und er nannte ein Büro, aber keiner wollte schreiben, keiner wollte mehr was von einem Büro wissen, sie wollten alle ihren Sohn, Vater, Bruder wieder haben. Gegen sechs Uhr kam der Regimentsfeldwebel mit dem Colonel aus dem Zimmer und hatte in der Hand die Liste aller gefragten Namen. Faktisch waren vier im Regiment, wohlgemerkt die Namen und Daten nach den Listen, ob es aber auch die betreffenden gesuchten Personen waren, war eine andere Sache. Jedenfalls würden diese vier Soldaten gleich ins Büro gerufen werden, und die Verwandten sollten sich bereit halten. Was die andern anlangt, so gäbe es die nicht beim Regiment, beziehungsweise bei diesem einzelnen Regiment der Fremdenlegion.
Mit dieser Mitteilung begnügten sich aber nur die wenigsten. Auch der Sohn des Justizrats war nicht genannt. Von den Leuten waren ein Dutzend so zudringlich, daß der Colonel sie einzeln zu sich hereinrief. Und als er den Justizrat sprach und der ihm seinen Sohn beschrieb, die einzelnen Daten gab, wurde der Colonel unsicher und bestellte den Justizrat und einen andern für den nächsten Vormittag auf den Kasernenhof zu einem Appell zweier Kompanien. Denn mit aller Sicherheit hatte der Justizrat seinen Sohn, wie er sagte, unter den Reitern der 1. Kompanie erkannt.
»Aber warum sollte er sich nicht in der langen Zeit bei Ihnen gemeldet haben, Herr Justizrat«, fragte der Colonel. Das war die Frage, über die der Justizrat selber nicht völlig hinweggekommen war. Jetzt antwortete er bloß: »Ich danke, Herr Colonel. Es genügt mir, er ist da.«
Die Sache war nicht so einfach für den Oberst. Die Kolonialtruppe war keine Truppe wie jede andere. Es gab gewiß viele Elsässer und Lothringer im Regiment, die einfach übergelaufen waren, um der Sache der verhaßten Boches nicht zu dienen; aber in dem normalen Gros der Truppe gab es genug zweifelhafte, aber tapfere Männer, denen nichts an ihrer Familie lag, von denen man auch wußte, ohne daran zu rühren, daß ihre Papiere nicht in Ordnung waren. Man hatte weder das Recht noch ein Interesse daran, diese mit ihrem mehr oder weniger verseuchten bürgerlichen Dasein zu konfrontieren. Immerhin, der Fall des Justizrats lag einwandfrei, es konnte etwas an der Sache sein. Wegen der Person des würdigen Vaters interessierte sich auch der Oberst für den Fall.
Am nächsten Morgen standen die beiden Kompanien auf dem Hof. Nach den üblichen Meldungen und Besichtigungen teilte man mit, daß zwei elsässische Väter, die ihre Söhne suchten, von dem Feldwebel an der Reihe vorbeigeführt werden würden. Ein neugieriges Schmunzeln verbreitete sich bei der Mannschaft. Der jüngere der beiden Väter wurde vorbeigeführt, es war ein rüstiger Mann in einem schwarzen Anzug, führte einen Knotenstock und blickte unter einem schwarzen, mit Bändern
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