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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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obersten Kriegsherrn. Es war ein Fastnachtscherz Wolters, ganz Elsaß lachte Tränen, aber Wolter wanderte ins Irrenhaus. Da hat man ihn nun herausgeholt, und er genoß die lang entbehrte Freiheit und verteilte Flugblätter, als Held von 1913.

    Für den nächsten Vormittag war der Justizrat aus dem Städtchen, das wir kennen, zu den Fremdenlegionären bestellt worden. Er erwartete etwas; alle wanderten durch die lieblichen Straßen und dachten an das, was ihnen der nächte Tag zuschieben würde. Aber was er erwartete, ging über alles hinaus, was sie erhofften. Schon seit drei Tagen hielt er sich in Straßburg auf.
    In seiner Brusttasche trug der alte Herr die letzten Photos seines Sohnes, seine beiden Briefe vom Hartmannsweilerkopf, die verschiedenen Antworten von den Vermißtenstellen, das Portefeuille seiner Ängste und Hoffnungen. Dieses schwarze zerschlissene Portefeuille lag auf dem Bettpfosten seiner Frau, als sie 1916 starb. Sie hatte es zuletzt alle paar Stunden, ohne zu öffnen, sich in die Hand legen lassen. Ihr Todesschweiß war in dem Leder eingetrocknet. Wo alles sich in Straßburg freute – es kam ihm so vor –, warum sollte es ihm nicht gelingen. Er war, obwohl aufrecht, sehr alt und seine Gefühle nicht mehr rege. In ihm erhob sich nur die eine Frage: was sollte das Schicksal veranlaßt haben, mich für so viel Schweres auszusuchen? Während er durch die Straßen und Gassen wanderte – er war schon vor dem Einzug der Sicherungstruppe gekommen –, achtete er auf kleine Zeichen, auf Vorzeichen. Ich bin ein alter Römer, schmeichelte er sich und suchte seine Angst zu beschwichtigen. Die entscheidenden Stunden seines Lebens – so kam ihm vor – nahten. Die Nacht zum Mittwoch lag er bis auf verdämmerte halbe Stunden schlaflos. Seine Frau war katholisch fromm gewesen; er selbst hatte die Verbindung mit dem Glauben verloren, im Grunde infolge ständiger Reibereien mit Prälaten. Jetzt, in der ersten Nacht, wenn ihn das flache Dämmern losließ, jedesmal wandten seine suchenden Gedanken sich dem großen Helfer zu und versteckten sich noch immer schamhaft und kämpferisch hinter seiner Frau und flehten hinter dem Rücken der Toten, in ihrem Namen um Beistand, um Gewähr dieser Bitte, dieser einzigen Bitte.
    Er begann am nächsten Tag den Martergang durch die alten Ämter des Generalkommandos, er kannte sie schon gut, aber siehe da, fast alle Türen waren verschlossen, in einigen Zimmern saßen noch Leute, das waren Unterbeamte, auch Soldatenräte, die zuckten die Achseln, als er ankam, und lachten ihn beinah aus. Er wußte selbst, der Gang war überflüssig, es war nur, um den Tag für den Verschollenen hinzubringen und nicht wieder in die Angst oder in die letzte Gewißheit zu verfallen. Übermütige Menschen, gleichgiltige Gesichter sah er auf der Straße, keines, das einen Blick für einen traurigen, verschlossenen, der Vereisung nahen Menschen hatte. Warum suchte er den Sohn? Um selber der völligen Vereisung zu entgehen? Er hielt sich die Frage selbst vor. Nicht das; es kommt nicht auf mich an, ich könnte leicht einschlafen, ich bin alt genug. Aber wenn ich zurückblicke auf mein Leben, und dieses Frohe, Süße, Junge sollte weggenommen sein, auch das noch, dies Gute, Liebe – nein, nicht für mich, ich möchte nicht denken, daß dies junge Leben vernichtet ist und nicht hat weiterleben können, daß es auf dieser großen Erde keinen Platz gefunden hat. Er ist so fröhlich, sicher ausgezogen; er hat uns noch getröstet, er hat die Mutter keine Woche ohne Nachricht gelassen; er war ihr und mein Kind, unser liebes einziges Kind.
    Der Justizrat, eine hagere Juristenfigur mit einem dünnen grauen Backenbart, steckte sich am Schirmecker Tor, am Morgen des Einundzwanzigsten, ein blauweißrotes Bändchen ins Knopfloch und wartete. Er sagte, er suche seinen Sohn; man machte ihm Platz. Man sah ihn dann nach dem Einmarsch der Truppe still weggehen. »Aber so können Sie ihn doch nicht finden«, trösteten ihn Nachbarn. Er dankte still: »Ich weiß schon. Sie kommen ja erst morgen.«
    Er hoffte auf die Fremdenlegion.
    Er traf dieselben Leute am Zweiundzwanzigsten am Schirmecker Tor; es hatte sich bald im ganzen Kreis verbreitet: es ist ein Elsässer da, der seinen Sohn sucht. Er hatte die Photos aus der Tasche gezogen, Männlein und Weiblein hatten sie betrachtet, und nun kamen die Spitzenreiter. Vorne, vor vielen Menschen, die sein Schicksal kannten und es als ihres empfanden, stand er und blickte.
    Das

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