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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Ruhmes und die gemeinsam erlittenen schweren Kriegsjahre.
    Es hieße die Gerechtigkeit herausfordern, wollte man die Rückkehr der vergewaltigten Völker zur Freiheit von einer neuen Befragung abhängig machen.«

    Wer da in dem großen niedrigen Bürgerzimmer, an einem mächtigen Tisch einsam saß – drei Gasflammen summten oben in ihren hohen Milchglaszylindern, den Tisch bedeckte eine schwere große rote Plüschdecke –, das war Frau Anny Scharrel, die Besitzerin dieses Hauses am Hohen Steg. Unten rumorte das Leben der Einzugstage, ununterbrochen bumste und schmetterte Musik aus dem benachbarten Café Westminster, das sich über Nacht in ein Café de la Paix verwandelt hatte, man hörte nicht mehr das Flaggenlied und das Herz am Rhein, dafür die Hymnen aller alliierten Nationen und viertelstündlich die Marseillaise, die auch zwischen Walzer und Jazzmusik auftrat, gleich einem kurzatmigen Schwimmer, der eine kleine Zeit taucht, dann aber unweigerlich den nassen Kopf aus dem Wasser steckt und prustet.
    Schön, fremdartig war Frau Scharrel auch jetzt noch. Ihr Vater war ein katholischer Mühlenbesitzer in Lothringen gewesen, sie hatte einen reichen Kolmarer Spinnereiherrn geheiratet, der aber schon vor dem Krieg starb. Die Familie war stark französisch durchsetzt, der lothringische Vater Annys diente 1870/71 als Kapitän bei einem Gardemobilekorps du Haut Rhin. Sichtbar floß in den Adern der Frau Scharrel südliches Blut. Sie saß in einem roten schmalen Fauteuil und hatte beide Arme auf die Seitenlehnen gelegt, die Hände verschränkt, als ob sie sich den Puls fühlte. Auf dem Tisch, um die rote Alabastervase, lagen massenhaft Papiere, Briefe, Karten, Hefte. Sie blickte abwesend vor sich hin, traurig. Wieder die Marseillaise, Frauenstimmen sangen. Sie ging an ein Fenster, überzeugte sich, daß es geschlossen war, saß wieder. Völlige Ruhe in dem großen Raum mit dem französischen Kaminspiegel.
    Die kastanienbraunen Haare trug sie hochgekämmt, einen Scheitel in der Mitte, beiderseits über die Ohren legten sich schwere Haarwellen. Einfache silberne Ohrreifen traten hervor und berührten das gelbseidene locker gebundene Halstuch. Das ernste Gesicht der Frau war voll, es trug einen dunklen Ton. Die schwarzen Augäpfel, gewölbt, traten hervor und wichen in der Zerstreutheit leicht nach links und rechts ab. Unten der volle Mund schien zu schmollen. Sie löste ihre Hände voneinander und wühlte wieder in den Papieren.
    Da klingelte es. Man öffnete. Es war Hilde. Sie wollte die Verwandte ihres ehemaligen Freundes Bernhard besuchen. Berserker, hatte sie gedacht, du machst dich unsichtbar, du denkst, ich komme doch. Ich komme nicht. Aber – sie ging zur Frau Scharrel, wo sie vor dem Krieg, als ein wie junges Mädchen, Bernhard kennengelernt hatte. Mit Herzklopfen stand sie an der Tür des Wohnzimmers, die das Hausmädchen vor ihr öffnete, und blickte in den wohlbekannten Raum. Und da saß seine Tante, nicht verändert, in der alten hohen Frisur, erhob sich lächelnd und ging ihr entgegen, in einem schwarzen enganliegenden Kleid, das unter der Brust von einer großen goldenen Gürtelschnalle zusammengehalten war. Welchen reichen Spitzenkragen sie über den Schultern trug. Sie trauerte um ihren gefallenen Ältesten, aber wie elegant, Trauer, die mit einer zarten Geste um Entschuldigung bat. Sie umarmten und küßten sich. Sie setzten sich nebeneinander. Über die Papiere auf dem Tisch legte Frau Scharrel im Sprechen und Hören beide Arme in dem weichen losen schwarzen Stoff.
    »Inzwischen ist Franz-Maria gestorben«, sagte Frau Anny und spielte mit einem Blatt. Hilde bemerkte, sie trug keinen Trauring, sondern nur eine mächtige Perle. »Was ist das?« »Papiere, die man mir später schickte. Was sich in seinen Mappen ansammelte.« »Du hast dich bemüht, ihn freizukriegen, Anny?« »Bemüht! Ich habe alle Minen springen lassen. Er war nicht geschickt, er sprach so, wie er dachte, ich habe ihm gesagt, als er in Urlaub kam, man müsse listiger als eine Schlange sein, und noch dazu vor einem solchen Gegner, vor dem Preußen. Er versprach mir in die Hand, mir keinen Kummer zu bereiten. Er war stolz.«
    »Was ist das?« fragte Hilde. Es war ein Büchelchen. »Das hat der kleine Roger in der Schule bei der Versetzung bekommen. Ich hatte es Franz-Maria geschickt, damit er einen Spaß hat.« Sie blickte Hilde lächelnd an, und bot ihr das Buch: »Fritz der Flieger.« Hilde überflog einige Zeilen:
    »Wie eine große

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