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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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dem weißen summenden Gaslicht, wie ein zerklüfteter Mondkrater, wer weiß noch, wie dies einmal gebrannt, geglüht und geblüht hat.
    Hilde saß vornübergebeugt auf dem kleinen Korbschemel, die beiden feinen Hände legte Frau Anny auf Hildes Knie, und so sah sie ihr auf den Mund, in die Augen: »Sie haben das Land so – dumm gemacht. Wohin sie kommen, machen sie die Menschen plump, dick und dumm. Sie verbreiten das Schafsgemüt. Habe ich recht? Die sauberen Straßen, die pünktliche Post, und das. Ich mag nicht mal ihren Heinrich Heine, obwohl der Jude war und gegen sie sein sollte, aber die ›Lorelei‹, ›Du bist wie eine Blume‹, der Sirup, der Sirup.« Hilde: »Und wie ist ihre Liebe?« (Der Leutnant Becker auf seinem Stuhl, wir sagten uns adieu, meine Brüste, welche zauberhafte Stunde.)
    »Ich bin Penelope, die auf ihren Gemahl wartet, der im trojanischen Krieg geblieben ist?«
    »Dafür habe ich dich nie gehalten.«
    »Hättest du sollen, habe schmerzlich lange Jahre gebraucht, bis ich es nicht mehr war. Oder die indische Witwe, die auf den Scheiterhaufen steigt. Das war mir alles näher als die Wahrheit. Du kennst ein deutsches Mittagessen, ein dickes, heißes Stück Fleisch, zwanzig Kartoffeln, jede so groß. Setz dich zu einem französischen Déjeuner. Es beginnt mit einem Horsd’œuvre, drei, vier, fünf Portionen, mit einem Apéritif eingeleitet. Dann empfängst du die Fischplatte, danach eine Scheibe Fleisch oder Huhn, Gemüse, Salate, danach Käse, es gibt viele Sorten Käse, du kannst wählen, Früchte, Dessert, Kognak; dazwischen der Wein, weiß oder rot, wie man ihn hat, zum Schluß Kaffee, die Zigarette. Ein Déjeuner. Das ist die deutsche Liebe und die französische Liebe. Sie sind aber durchaus nicht die himmlische und die irdische Liebe.« »Und was sind sie?«
    »Ach, die deutsche Tölpelei. Von der deutschen bekommst du, ich will nicht obszön sein, bestenfalls den Bauch voll. Die französische berührt und beteiligt dich ganz.«
    »Das träumst du alles, Anny.«
    Hilde begriff nichts mehr. Ihr kam vor, als ob Anny, mit dem kleinen Grübchen in dem vollen runden Kinn, reizvoll wie nie aussah, aber von beiden Mundwinkeln zogen sich nach unten so ganz kleine schmerzvolle Linien.
    Bevor Anny antworten konnte, klingelte es im Korridor. Die beiden Frauen richteten sich auf. Bald erschien im Türrahmen das Hausmädchen und meldete zwei Fräulein.
    »In den Salon, bitte«, sagte Anny; sie gingen herüber. Als Anny die Tür des Salons hinter sich schloß, traten die Gäste grade ein.
    Sie waren wie aus einem Bild geschnitten, Titel: »Die beiden Schwestern des Herrn X«, oder »Die Töchter von Madame Y«. Sie kamen langsam und lächelnd auf Frau Scharrel zu. Sie hatten schwarzes glatt anliegendes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und die Ohren bedeckte. Sie waren von untersetzter Gestalt, gedrungen, ohne plump zu sein. Und kaum waren sie über die Türschwelle, die sie hintereinander passieren mußten, so schlossen sie sich wieder aneinander und schlangen Arm um Arm. Auf ihren runden hellfarbigen Gesichtern lag ein rötlicher Schimmer. Was ihre Ähnlichkeit hervorhob, war weniger das genau gleiche Kostüm, die gleichen schweren blauen Schals mit ihrer prächtigen Randdurchwirkung, als vielmehr die völlige Gleichheit ihrer Gesten, des sanft aufmerksamen, klug aufgeschlossenen Blicks, den sie aus ihren großen braunschwarzen Augen unter starken strengen Brauen herrichteten. Eigentümlich diese Augenbrauen, die wie pelzige Raupen dalagen und jeden Augenblick Zeichen eines ganz anderen, unerwarteten Lebens geben konnten. Wenig erhoben sich die länglichen, schön geschnittenen Nasen. Darin glichen sie der von Frau Anny, deren Gesicht wie ihres zur Breite neigte. Der Mund der jüngeren Schwester schürzte sich, wie sie näher trat, zum Kuß.
    Beide standen dann in ihren lang hängenden Gesellschaftskleidern, unter denen sich keine Linie ihrer Brüste, Hüften und Beine abzeichnete, vor Anny, boten ihr ihre Wangen und küßten. Ihre Kleider, so dicht sie den ganzen übrigen Körper verschlossen – ein tüchernes Kloster, das zum Raub einladen sollte –, hatten einen schmalen Schulterausschnitt. In ihn versenkten sich die Anhänger ihrer schmalen goldenen Halskettchen. Als sie sich von Anny abgelöst hatten, schoben sie wieder die Arme ineinander und wurden vorgestellt, die beiden Nichten von Frau Scharrel, Großkusinen Bernhards. Man stand in dem Rund der gelben satinbezogenen Fauteuils auf

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