November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
deutschen Mütter und Kinder!« Frau Anny mit einer Flamme in den Augen: »Sie lügen. Zerrissen haben sie uns.«
Und dann lagen da die gebündelten Stöße von Briefen. Frau Anny legte schützend ihre beiden Arme darüber wie eine schwarze Wolke: »Hier sitzen wir nun alle, Väter, Mütter, Kinder, und denken, wenn sie die Militärmärsche und die Marseillaise hören: was nützt uns das noch. Hin ist hin. Es reißt uns das Herz auf, wenn sie singen und trompeten. Aber wir sind, ob wir wollen oder nicht, ob wir uns schämen oder nicht, die Überlebenden.«
»Gott, Anny«, hauchte Hilde und starrte die ruhige, ja milde Frau an. Welchen wunderbaren Spitzenkragen sie um die Schultern gelegt hatte, wie fein ihre Lippen mit dem Stift gezogen waren.
»Du dachtest doch nicht, Hilde, du kommst in ein Trauerhaus. Was glaubst du, werden die draußen, die Staatsmänner, mit denen tun, die gestorben sind und auf Grund deren Tod sie ihre Pläne entwickeln können? Ich sehe sie schon überall, in Straßburg, im ganzen Elsaß-Lothringen, in jedem Marktweiler auf dem Hauptplatz, dicht neben der Post geschäftig ein Denkmal errichten, einen Heros, einen Krieger, der hinsinkt, er hält die Fahne. Dabei gibt es Einweihung, Reden werden gehalten, der Minister hat zu tun. Dabei soll ich an Franz-Maria denken. Die Staatsmänner ziehen ihre Konsequenzen aus dem Krieg, wir unsere. Aber weinen ist keine Konsequenz.« »Und was ist die Konsequenz, Anny?« Frau Anny legte sich in ihrem Fauteuil mit einem leicht spöttischen Ausdruck zurück. »Ich lass’ mir mein Erbe nicht rauben. Ich übernehme mein Erbe. Ich – und nicht irgendein Intrigant, ein Deputierter, ein Minister. Zum Beispiel haben mir und meinem seligen Mann die preußischen Richter den Besitz meines lothringischen Gutes abgesprochen, es war ein ungerechter Prozeß. Ich habe Auftrag gegeben, meine Ansprüche anzumelden. Du meinst, das ist gemein, und ich mache es ebenso wie die kleinen Geschäftsleute, die sich über den französischen Sieg freuen, weil sie den anderen Schnittwarenhändler aus der Stadt jagen können? Laß nur machen! Laß uns gemein sein!«
Das Hausmädchen klopfte und schob ein gedecktes Teetischchen neben den Fauteuil der Dame vom Haus. Frau Anny bediente schweigend ihren Gast und goß sich ein; sie entließ das Hausmädchen mit einem Kopfnicken. Während sie sich einen Keks in den Mund schob, betrachtete sie aufmerksam ihren Besuch, der nachdenklich den Staubzucker von dem Löffel in den Tee rinnen ließ. An Landstürmer im Osten dachte Hilde, wo sie eine fliegende Rote-Kreuz-Gruppe begleitete, war es nicht Wilna, lustige Leute waren es, ausgezeichnet gefiel es allen, einer hatte eine Hühnerfarm, der andere einen Schweinestall gebaut, »wir bereiten uns auf einen langen Krieg vor«, lachten sie, die Leute sahen mit Riesenbärten schon wie Russen aus, nur gegen das viele Impfen hatten sie etwas, sie fragten, ob man sie nächstens gegen Hunger und Durst impfen würde.
»Du bist verlobt, Hilde, oder verheiratet?«
»Warum?«
»Du siehst so aus, reifer.«
»Ich war auch früher kein Nesthäkchen.«
»Immerhin.«
»Man hat viel erlebt, Anny. Krieg ist kein Kinderspiel.«
»Du hast doch einmal für meinen Neffen, soi-disant Neffen Bernhard geschwärmt. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Was ist aus ihm geworden.« »Ich weiß nicht.« Hilde lachte. »Warum lachst du?« »Weil du eigentlich näher bei ihm wohnst als ich. Wir waren bis zur Ukraine.« »Und habt euch nicht geschrieben?« Hilde trank an ihrem Täßchen: »Bernhard und ich? Nein.«
Frau Anny zupfte an ihrem linken Ohrring: »Du bist reifer geworden. Vielleicht bist du sogar reif, von Frankreich annektiert zu werden?« Hilde blickte sie an, Frau Anny lächelte in ihre Tasse, was für ein spitzes, mokantes, aufreizendes Lächeln. »Du bist Vollelsässerin, Lotte aus Goethes ›Werther‹, oder Gretchen. Du bist geboren in Straßburg, aber du stammst aus Sesenheim. Der Mann aus Frankfurt am Main, der Goethe, ist zu uns über den Rhein gekommen, Kinder hat er keine gemacht, nicht einmal mit seiner Lotte, dafür hat er eine ganze Generation Gretchens, Lottes in die Welt gesetzt, das Elsaß damit bevölkert und bis zum gestrigen Tage verlottet. Du bist dabei. Ich nicht, ich stamme aus Lothringen. Aber ich habe in euren Apfel beißen müssen, weil ich hier wohne.« Sie hatte das Täßchen abgesetzt, rückte dichter zu Hilde, still und verlassen lagen auf dem großen Tisch die Stapel Papiere unter
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