November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Wechsel hat sich im Leben von Barbaras geliebtem Ziweck vollzogen. Er schläft in seiner wüsten Zelle wie sonst. Wie sich auch die Tage bewegen, ob die Revolution vorschreitet, ob sie siegt oder erlahmt, Ziweck landet in der Zelle. Er ist ein unruhiger Geist, ein heftiger Mensch, der Projekte wälzt und vieles unternimmt. Die Zelle ist der ruhende Punkt in seinem Leben.
Ins Lazarett hat noch einmal zu Ziweck der lange Chefarzt gemußt, dabei hat ihm sein Sanitätsfeldwebel geraten, sich das Hühnerauge am linken Fuß zu schneiden, was geschah. Es war ein verhängnisvoller Rat. Auch der lange Chefarzt und seine rundliche Frau schlafen.
Im Wüten der spanischen Grippe bedeutet der verflossene Dienstag kein Datum. Die dunklen Privathäuser, die Kasernen bleiben für sie weit offen. Da liegen Menschen und schlafen und fühlen nicht, was an ihnen sein Werk übt. Unsichtbare Dämonen senken sich in ihre Kehle, lassen sich in die Lungen herab. Der Körper wird bald in Alarm geraten. Der Mensch mit seinem großen Wissen schläft, er wird morgen matt sein und nichts verstehen und nicht aufstehn wollen, er wird sich an die Stirn fassen und sich heiß fühlen. Inzwischen hat sein Fleisch, der tapfere Leib, den Gegner erkannt und den Kampf gegen die Dämonen aufgenommen.
Wach ist man im Hause des Justizrats, beim Bürgermeister, bei Damen des vaterländischen Frauenvereins. Dutzende von Näherinnen hocken an Maschinen, bezahlte Arbeiterinnen, die Damen selbst beteiligen sich, sie nähen mit Volldampf blauweißrote große und kleine Fahnen. Denn nach Dienstag kommt Mittwoch, nach Mittwoch Donnerstag und Freitag, und am Sonnabend sind vielleicht schon die Franzosen da. In jedem Raum ist die Arbeit geteilt. Sie zerschneiden das stolze schwarzweiß-rote Fahnentuch, das in Stapeln spottbillig von den Firmen hergegeben ist. Das Schwarz fliegt abseits auf einen Haufen, Rot und Weiß geht an die Zuschneiderinnen und Näherinnen, Blau fehlt noch, aber die Lösung des Rätsels ist gefunden: man färbt das Weiß. Überall tuschelt man, die Damen bewirten ihre Gäste und halten sie mit starkem Tee wach, sie bezahlen zwar, aber möchten nicht, daß die Tätigkeit als bloße Lohnarbeit angesehen wird.
Mamsell Köpp, die Hutmacherin mit dem zweivätrigen, noch ungeborenen Kind, ist dabei und läßt ihr Rädchen laufen. Sie singt nicht wie Faustens Gretchen: »Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer«, sie ist fröhlich, denn sie hat ein Dokument in der Tasche, das für sie den Aufstieg bedeutet. Sie ist am Vormittag bei der Frau Fabrikdirektor, der Mutter des stürmischen Oberleutnants, gewesen und hat ihr ihr Leid geklagt. Es war ein überwältigend kostbares Haus, reicher als in einem Film. Die Dame war außer sich und gab ihr nach einigem Hin- und Herfragen eine Visitenkarte an den Gemahl mit, den sie morgen in seinem Büro aufsuchen soll.
Einer rannte im Finstern freudig wie eine Fackel über die Felder.
Es ist der jüdische Hopfenhändler Julius Bernt, in der Stadt ansässig.
Er hatte den rumänischen Krieg mitgemacht und war vor Monaten mit einer chronischen Ruhr zurückgeschickt. Sie heilte, aber er blieb schwach, kämpfte darum, zu Hause zu bleiben, mußte sich von Untersuchung zu Untersuchung schleppen. Und nun war das alles zu Ende. Seitdem die ersten revoltierenden Soldaten auf der Straße erschienen, bis heute, hat er in seiner engen finsteren Parterrewohnung am Bahnhofplatz still herumgesessen. Er braucht sich nicht in der Kaserne zu melden, nicht ins Lazarett zu gehn, keiner holt ihn ab, keiner kümmert sich um ihn, er ist frei! Zwei Tage lag er zu Bett. Seine Frau ängstigte sich, weil er wenig sprach.
Heute ist er aufgestanden und mittags allein in die aufgeregte Stadt spaziert, aber nachmittags, als sich alles zur Plünderung in die nahe Kasernengegend verzog, wanderte er Arm in Arm mit seiner Frau in die Stadt auf den Paradeplatz, wo sie sich im Café zwischen den freudigen Leuten niederließen und Kaffee tranken und sich Kuchen gönnten. Am Abend litt es ihn trotz des Garnisonbefehls nicht zu Hause. Er wollte auf die Felder, er mußte sich auslaufen.
Der Wind sauste, sprühend fiel der Regen, der Mann kannte die vielen kleinen und großen Wege, die über die Hopfenfelder führten; seit er aus Rumänien kam, war er nicht hergegangen. Und jetzt irrte er im Finstern die Zickzackwege, sprudelte Worte heraus und gestikulierte.
Er beschimpfte die Unteroffiziere, die Feldwebel, die ihn malträtiert hatten, die er hatte
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