November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
oben mit einer Krücke nach dem Handwerkskasten und angelte ihn näher. Er bückte sich und wühlte unter den Instrumenten. Er holte ein zerknülltes blaues Kuvert vor. Das Kuvert strich er glatt, es war offen, er zog ein gefaltetes Blatt heraus, eine amtliche Bekanntmachung betreffs Enteignung, Ablieferung und Einziehung der durch Verordnung M 325/7.15, K.R.A. bezw. M 325e/7.15, K.R.A. beschlagnahmten Gegenstände vom 10.November 1915. Die hielt der Alte im Kasten unter dem Tisch versteckt und las darin heimlich von Zeit zu Zeit, um sich eine besondere Freude anzutun.
Nachdem er sich durch einen Blick überzeugt hatte, daß ringsum alles in Frieden lag, qualmte er und las mit halblauter Stimme:
»Nachstehende Verordnung wird auf Ersuchen des Königlichen Kriegsministers hiermit zur allgemeinen Kenntnis gebracht mit dem Bemerken, daß jede Übertretung ...«
Er verfolgte mit dem Zeigefinger prüfend diesen Satz und drehte das Blatt um: Wann hat der Königliche Kriegsminister ersucht, daß jede Übertretung …
»Da steht es, 3.12.1915. Der Gouverneur von Vietinghoff-Scheel in Vertretung. Warum I. V.? Warum nicht den richtigen Gouverneur, wenn sich der Kriegsminister an ihn wendet?« Der Alte holperte allemal über diesen Punkt. Der Gouverneur ist verreist gewesen, dann kann man aber telephonieren, vielleicht war die Stellung des Gouverneurs wacklig, oder der Kriegsminister hatte Streitigkeiten mit ihm, der Gouverneur lehnte ab, Verfügungen dieses Kriegsministers anzunehmen und ließ von seinem Stellvertreter zeichnen. Herrgott, sagte er aufatmend, nachdem er diesen Gedanken hatte passieren lassen, was gibt es für Dinge bei hohen Personen, besonders beim Militär.
Er drehte das Blatt wieder und nahm einen Pfeifenzug.
Es ist viel in der Welt geschehen, hier stimmt vieles nicht mehr, das mit Vietinghoff-Scheel, dem Stellvertreter, vielleicht sogar mit dem Kriegsminister nicht; was ist mit ihnen? Er wog unsicher das Blatt in der Hand. Draußen hämmerte man. Er schielte hin, schüttelte den Kopf, wandte sich wieder seinem Blatt zu. Und während seine Augen langsam Silbe um Silbe lasen, trat der Mann ein, der draußen gehämmert hatte, und sie führten ein Gespräch über Leim, weil ein schönes chinesisches Rauchservice eben beim Einpacken in Stücke zerbrochen war. Da sollen doch die Chinesen die besten Leime haben! Der Alte wußte nichts davon, sie betrachteten aufmerksam den zerfallenen Deckel des schwarzen Kastens und prüften ohne Erfolg die Bruchstelle, bis der Mann ging.
»Von der Verordnung betroffene Gegenstände, Klasse A, Gegenstände aus Kupfer und Messing.
1. Geschirre und Wirtschaftsgeräte jeder Art für Küche und Backstube, wie beispielsweise Koch- und Einlegekessel, Marmeladen- und Speiseeiskessel, Töpfe und Fruchtkocher, Pfannen, Backformen, Kasserollen, Schüsseln, Mörser.«
Jedes einzelne Wort las der Alte mit leiser Stimme, und es trat ihm dabei vor Augen, zusammen mit dem, was damit geschah, der Marmeladenkessel, der Speiseeiskessel, die Früchte, die man hineintut, nachdem man sie gesammelt oder gekauft hat, viel Zucker hinzu, lange kochen. Er erinnerte sich an seine Mutter in Drusenheim, wie sie eingekocht hatte, er war noch ein Bübchen, sie goß es in Blecheimer, und dann kam es in den Keller, und man ging ab und zu in Prozession in den Keller, jedes Kind eine Schüssel in der Hand für den Vorrat, den die Mutter eingoß.
Hinter »Mörser« war ein Kreuzchen, das verwies auf den Schluß, wo alphabetisch aufgezählt war, was es an Kupfer- und Messingformen in Wirtschaft und Küche gab, und das war für den Mann ein Entzücken. Da tauchten nacheinander die herrlichen Dinge auf, wegen derer er das Blatt aufbewahrte. Denn er war zwar nur Flickschuhmacher gewesen und die Frau hatte nur Aufwartestellen versehen können, sie hatten bescheiden essen und trinken müssen, aber er war im geheimen Feinschmecker geblieben. Solange er arbeitete, kam das nicht auf; er saß hinter seiner Schusterglocke, roch das alte Leder und hämmerte und nähte. Nach dem Schlaganfall aber nahm man sich seiner an, er bekam den Portierposten und konnte sich um sich kümmern. Da merkte er, was für ein Leckermaul er noch war, die Frau und die Pfarrersfrau brachten ihm Zigarren, Kuchen, Pastetenstücke, und er selber hatte diese Lektüre entdeckt.
Er las und genoß: Anrührschüssel, Aspikformen, Aspikränder, Auflaufformen. Ausstechformen, Backbleche, Backformen aller Art, Backlöffel (er seufzte vor
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