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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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breite Kasernenstraße. Wozu? Wollten die Leute, die keine Waffen hatten, die Kaserne stürmen und die Truppen angreifen?
    Sogar in der Kaserne wußte man nicht gleich genau, was vorging. Man fürchtete sich aber nicht, denn man war gereizt, und Waffen hatte man genug. Die Leute unten, Städter und Städterinnen, die Masse der Bauern und Bäuerinnen mit ihren Karren und Ochsengespannen, sahen freilich nicht nach Sturm auf die Bastille aus. Sie waren angezogen von dem Gerücht, daß eine große Plünderung in den Kasernen stattfinden würde. Die verheißene Plünderung, die sie alle in die Stadt gelockt hatte, würde – so wußte man seit einer Stunde mit aller Gewißheit – jetzt erfolgen.
    Im Norden der Kasernenstraße schoben sich um diese Zeit noch Möbelwagen auf Möbelwagen. Sie standen auch vor Villen, und man schleppte Möbel auf die Straße. Entsetzt sahen die abreisenden Beamten, wie sich eine raublustige Menge herschob und ihre Wagen umringte. Es gab Geschrei und Drohungen. Aber an keiner Stelle erfolgte mehr, man respektierte ihr Privateigentum. Es gab in jeder Gruppe ein paar ruhige Männer oder Frauen, welche Heißsporne zurückhielten. »Laßt die Schwobe abziehen! Daß sie noch erzählen, bei uns gibt es Diebe.« Und so sahen die Umzugsleute, daß die Menge nur lärmend um die Wagen schwemmte, ohne daß ein Stück weggerissen wurde.
    Vor der Kaserne aber, dem langgestreckten riesigen Häuserblock, dessen Tore fest geschlossen waren, wimmelten die Städter und Städterinnen und die Männer mit den flachen Hüten und den schwarzen kurzen Westen, die jungen Bäuerinnen mit den prallen Waden und gesunden Gesichtern, die runzligen Mütter.
    Und gegen drei öffnete sich im Mittelteil des zweiten Stocks der Kaserne ein Fenster, angelweit, Soldaten ohne Mütze standen da, lachten und riefen herunter, und wie ein Bienenschwarm sich auf einen Blumengeruch zubewegt, stürzten sich Scharen über den Damm. Die Soldaten waren verschwunden, sie wurden aber wieder sichtbar und warfen Arme voll Sachen heraus. Erst waren es Stiefel, die unten auf dem Trottoir mit den Nägeln nur so hinprasselten, dann rauschte und klatschte Lederzeug herab, Feldbinden, Gürtel, Riemen, Patronentaschen, Verbandtaschen für Sanitäter.
    Aus andern Fenstern überschüttete man die Masse, die sich im Sprung hin und her bewegte, mit allerlei Gebrauchsartikeln. Es regnete Hosen, Jacken, Hosenträger, Wickelbinden für Gamaschen, Ledergamaschen. Andere Fenster ergossen wollene Unterwäsche, Strümpfe. Aus einem krachten herunter Spaten, eiserne Kochtöpfe. Das rauschte, schmetterte und prasselte ohne Pausen. Ein heulendes Menschengeschrei dabei. Manchmal wurden die Würfe durch einen warnenden Pfiff angekündigt.
    Mit welcher Wollust wühlten und schaufelten Soldaten oben in den Kleider- und Gerätekammern. Mit welchem Erlösungsgefühl schütteten sie die Sachen herab. Denn sie wußten, was das war, was sich hier als Unterwäsche, Spaten, Stiefel ausgab: Material, Ausrüstung für einen neuen Winterfeldzug. Da flogen die Schaufeln, für die Schützengräben und um ihnen selbst das Grab zu öffnen. Mit diesen Mänteln sollten neue Regimenter eingekleidet werden. In ihnen sollten sie zerschossen werden. Tod, Blut, Kanonenkrachen aus allen Stücken. Sie schleuderten sie weit weg, von sich zum Fenster hinaus, herunter auf die gierigen Zivilisten. Da war es gut aufgehoben. Von da würde es nie wiederkommen.
    Sie taten das Ihre, um mit diesem Krieg ein Ende zu machen. Und darum hatten sie sich auch dem Befehl des Soldatenrats nicht gefügt, Kleider- und Gerätekammern zu schützen. Deswegen war in der Kaserne den ganzen Vormittag über Streit gewesen. Eine Mehrheit im Soldatenrat wollte nur die Soldaten neu einkleiden, sonst sollte alles, was man nicht abtransportieren konnte, stehen- und liegenbleiben. Man wollte sich nicht am »Staatseigentum vergreifen«. Und sogar wenn die riesigen Vorräte den Franzosen in die Hände fielen, so war das in der Ordnung, und man hatte nicht weiter über die Sachen zu verfügen. Aber davon ließ sich die Mehrzahl der einfachen Soldaten nicht überzeugen. Zuletzt hatten sie die Wachen, die der Soldatenrat selber vor die Kammern gestellt hatte, überrumpelt und die Parole ausgegeben: alle Lager sind Soldateneigentum. Und das feierten sie jetzt und verfuhren danach, stundenlang.
    Junge Soldaten und alte Soldaten gehen ungehindert ein und aus durch das Tor. Sie lassen sich einkleiden, sie schleppen Sachen heraus.

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