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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Ergriffenheit an dieser Stelle, der weiße süße Kuchenteig lief vom Löffel, sie hatten als Kinder am Löffel schlecken dürfen), Backschaufeln, Biskuitformen, Eierkocher, Eierkuchenpfannen. Darin versenkte er sich stumm schmauchend eine Viertelstunde.
    Nun hatte er genug, strich das Blatt zurecht und legte es zärtlich in das Kuvert, als sich ein bekanntes Pantoffelklappern auf dem Hof vernehmen ließ.
    Richtig, die Frau, was wollte sie, rasch glitt das Kuvert in den Kasten, die Frau klapperte an der Tür vorbei, sie kam nicht herein. Und als sie nicht kam – sie war nach hinten, nach dem Gemüsegärtchen verschwunden –, stand er auf und wanderte mit den Krücken auf den Flur. Sie kam grade von hinten und schob einen alten Kinderwagen. »Geh in die Stube«, rief sie; er schwenkte gehorsam zurück, sie folgte, schloß die Tür, und während sie auf ihrem Bett suchte, er stand noch hoch in den Krücken vor dem Tisch – sagte sie: »Ich brauch’ die Decke.« Sie arbeitete wortlos im Schrank: »Da ist sie.« Es war eine alte Steppdecke, sie faltete sie: »Ich muß wieder ins Lazarett. Wir holen nämlich Sachen.« »Was für Sachen?« »Wäsche.« Sie war draußen, karrte ihr Wägelchen über den Hof.
    Der Mann saß, erschrocken. Die stehlen. Das hat der Pfarrer schon gesagt. Die Frau ist verrückt, sie wird erschossen werden. Was soll ich machen? Bis zum Lazarett – kann ich nicht.
    Nach einer unruhigen Stunde kam sie wieder. Sie schob den Wagen in die Stube, schloß hinter sich ab. Küchenwäsche, Handtücher, ganze Pakete kamen hervor, sie verstaute alles auf ihrem Bett. Er stand hoch in den Krücken daneben: »Frau, man wird dich erschießen.« Sie hielt ihm die Hand vor den Mund, tippte auf seine Stirn: »Ich geh’ nochmal, Geschirr.«
    Er sah ihr zu, wie sie ihren Schatz auf dem Bett ausbreitete und glattstrich, Bezüge, Handtücher, Servietten. Wozu will sie das alles. Wie sie die Sachen streichelt. Jetzt dreht sie sich um und öffnet das Spind, räumt die Wäsche ein. Die Runzeln über ihren Backen erweichen, die Krähenfüße an den Augen werden undeutlich. Wenn sie einen Wäschepack auf den Arm nimmt, so tut sie’s, als wenn sie ein Kind hebt. Als wenn ein Licht von dem Leinenzeug ausgeht. Die Alte wird gelenker; so war sie, wie der Junge lebte.
    Sie nahm ihr Umschlagtuch wieder, klapperte mit ihrem Wägelchen im Flur und fuhr an den Männern vorbei, die die Kisten klopften.
    Unwillkürlich, nach einer Weile, suchte sein Fuß unter dem Tisch den Kasten mit der Notverordnung, aber er holte ihn nicht hervor.

    Die Garnison war abgezogen.
    Da standen die wohlbekannten gelben Mauern der Kasernen, von denen gestern die Geschenke herabregneten, die drohenden Mauern mit Fenstern, wie eine Festung mit Schießscharten, von starken gefährlichen Männern wimmelnd. Sie waren aber heimlich abmarschiert, es war nicht zu glauben, hatten ein ungeheures Loch hinterlassen. Die Bürger standen zusammen und sprachen und staunten.
    Es war Friede, wahrhaftig und nicht vorzustellen, Friede! Es war schön! Keine Alarmsirene, keine Glocke, keine Mondnacht, kein Flieger wird mehr stören. Man war auf einen sicheren Grund geglitten.
    Allmählich wurden auf den Straßen, in Häusern und Läden die Menschen sichtbar wie ein Balken, der tagsüber auf dem Wasser schwamm, nachts von den Wogen nach unten geworfen wurde und wieder hochkam.
    Jeder Tag ließ bei dem Menschenvolk eine leichte Verwüstung zurück. In den Wohnungen, auf der Straße lagerte sich der Müll, der Schmutz, der Abfall, auf allen Gegenständen. Das Blanke an den Löffeln, Klinken, Krügen verstumpfte. Und die Menschen selber zerfielen von Tag zu Tag, ihre Haut schuppte, in ihrem Innern sammelte sich Abfall, ihre Haut dunstete und zersetzte die Kleider. Sie mußten sich, wenn es in die Nacht ging, hinlegen und das Leben aufgeben. Aber wo sie es gestern beendet hatten, fingen sie es heute wieder an.
    Als sich so die Schwestern und Damen vom Gefangenenkomitee erinnerten, daß in der Schule die armen Russen aus dem Lager schliefen, machten sie sich auf, und da war man schon beim Kaffee- und Brotverteilen, nackte Männerbrüste wurden an allen Wasserleitungen auf den Treppen gewaschen, gebürstet, struppige Köpfe prusteten unter dem Wasserstrahl. Proviant wurde verteilt, die Leute hatten es eilig, man war froh, sie loszuwerden, noch vormittags packten sie, gesättigt, ihre kleinen Bündel. Sie wollten nach Hause, nach Rußland, nach Hause. Sie wollten durch

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