November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
war der 10.November, der letzte Sonntag, es ist noch nicht einmal wieder Sonntag geworden. Ich habe noch einmal dann etwas mit Dir zusammen erlebt, als man die Särge der beiden, Du weißt, wen ich meine, vorbeitrug. Ich sah, wie sie durch unsere Straßen kamen und die vielen, vielen hinterher, und konnte von ihnen nicht wegsehen. Ich hätte mich als Mitschuldige fühlen müssen, als Schuldige, denn Du bist ja ich, mein Leben, aber ich habe ihnen nur gegrollt, weil sie Dich mir genommen haben. Ich konnte, Gott verzeih es mir, nur Haß und Groll empfinden.
Ich schreibe, ich schreibe. Ich denke, ich denke. Ich blicke mich um. Ich erwarte Rat von dem und jenem. Heute früh war ich in der Apotheke, bei dem Provisor, der Dich nach Straßburg brachte. Ich ließ mir von Dir erzählen. Er sagte mir, was er wußte. Es war nichts.
Lieber, mein ganzes Leben, es kann nicht so weitergehen. Du wirst noch Briefe von mir erhalten, morgen, übermorgen, vielleicht noch zwei, drei Tage. Aber die Tage sind zu qualvoll, ich kann sie nicht aushalten! Was weiter geschehen wird, weiß ich nicht. Schreib mir, Hans, schreib mir, schreib, komm zu mir, sei da, verlaß mich nicht.
Mein Gott, Hans, meine Armbanduhr liegt vor mir an der Seite, ich habe sie abgemacht, weil ich sie nicht sehen will. Es ist sechs Uhr nachmittag, mein Gott, ich muß warten bis halb sieben, sieben, halb acht, acht, halb neun, ich kann es nicht, es ist eine unmögliche Arbeit für mich, es ist Sträflingsarbeit, ich kann sie nicht leisten, ich kann nicht ...«
Da schrieb sie nicht weiter. Sie stieß, außer sich, völlig verzweifelt, das Blatt beiseite, legte den Kopf auf den Tisch und weinte.
Warum so nervös, liebes Kind? Warum sich das Leben so schwer machen. Sie haben zuviel Phantasie. Und andererseits haben Sie zu wenig Phantasie, sonst wüßten Sie zum Beispiel: Sie werden bald aufstehen, sich verzweifelt in der Wohnung umsehen, ob nicht jemand da ist, der Ihnen helfen kann, mit dem Sie sprechen können, vor dem Sie etwa weinen können. Sie wissen, Ihre Mutter macht schon lange einen weiten Bogen um Sie. Sie werden sich wieder hinsetzen und sich in die Finger beißen und über Ihre Eltern fluchen, die Sie so lassen und sich mit dieser albernen Komiteegeschichte befassen, während Sie fast umkommen.
Darauf wird sich ein neidisches und empörtes Geschöpf in Ihnen erheben, und Sie werden auf seinen Stoß und dringlichen Rat sich Ihren besten Mantel anziehen, schöne Überschuhe holen, sich pudern, die Lippen ziehen, Hut auf und in die Stadt gehen. Da werden Sie Schokolade trinken, nicht nach der Uhr sehen, und ohne daß Sie es merken, milder, ja ganz milde werden, nicht nur wegen der Schokolade – der Caféwirt gibt sein Bestes her, weil er weiß, die Franzosen sind bald da, und er wird alles in Hülle und Fülle bekommen –, sondern auch weil zwei bekannte Damen neben Ihnen sitzen und von Nancy und Paris schwärmen und französisch reden, Sie selbst beteiligen sich daran. Sie erinnern sich, Paris war lange Ihr Traum.
Oh, wie gut ist es, still in diesem Café auf der roten Plüschbank an der Wand zu sitzen, zwischen andern, mit dem Blick auf den Paradeplatz, schräg drüben die Polizeiwache, eine Apotheke, und vieles, fast Sie selbst sind weit weg von sich. Das alles weiß der Dichter. Für ihn ist es keine Neuigkeit, er geht fast immer so still herum, und in seinem Innern bilden sich Gestalten, noch unklar, sie bewegen sich in ihm wie in einem wohligen feuchten Garten, einem Treibhaus, aber nach einiger Zeit öffnet er die Tür – er muß es schon tun, um Platz für neue zu lassen –, und sie bewegen sich hinaus, er verfolgt sie, umfaßt sie mit einem liebenden Blick, sie entschwinden.
Ich sehe voraus, und ich nehme eine Uhr in die Hand, und auf die Sekunde genau sage ich, wann Sie, gequält und verworren, aufstehen werden und wann Sie zum Schrank gehen, ihn öffnen, welchen Mantel Sie wählen werden. Und ich gestehe Ihnen, Fräulein Hanna, obwohl ich auf das dezenteste, mit der Zurückhaltung, die sich für den Erzähler gehört, an Ihren Unterhaltungen und Zusammenkünften teilgenommen habe, daß ich mich nunmehr freue, Sie aufstehen zu sehen, und, über Ihren so zarten, aber straffen Körper gebietend, ihn bekleiden helfe – denn ich helfe Ihnen, die Pelzüberschuhe anzuziehen, ich rücke Ihnen Ihren Hut vor dem Spiegel zurecht, ich blicke mit Ihnen in den Spiegel und betupfe Ihre pikante kleine Nase mit Puder und begleite Sie die Straße entlang,
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