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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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um Sie Ihrem Gram zu entführen.
    Aber Sie – wir gehen auf einem großen Umweg über den wüsten Wasserturmplatz, an der ausgeleerten Schule vorbei, es kommt das prunkhafte Museum, da die Kirche, da biegt sich die Hauptstraße, drüben rechts das Gitter der Hopfenhalle –, sagen Sie selbst, schon dieser Gang, herausgenommen aus dem überheizten Zimmer, läßt Sie klarer, sagen wir ruhig, vernünftiger werden. Sie waren gestern auf der Post und wissen: die Bahnverbindungen ins Ausland sind unzuverlässig, Sie schreiben über die Schweiz, wie lange dauert es, bis ein Brief da ankommt, und in Deutschland herrscht Revolution. Sie wissen, die Beförderung ist unsicher, und wie soll heute oder morgen eine Antwort da sein, heute, erst Mittwoch seit dem schrecklichen Sonntag.
    Aber da ist noch etwas, woran Sie selbst nicht zu rühren wagen. Soll ich es verraten? Sie haben es in Ihrem letzten Brief, der noch auf dem Tisch liegt, erwähnt, aber nicht klar gesagt. Die beiden Särge mit den erschossenen Soldaten sind an Ihrem Hause vorbeigefahren! Wer hat sie erschossen, wer war der Mörder? »Mörder«, sprechen wir es aus. Eine Weile tun Sie so, als ob es Sie nichts angeht, dann faßt es Sie an. Sie wissen nicht, warum und was es ist. Zwei Menschen gemordet von ihm, von Hans, Sie können das nicht von seinem Bild entfernen, es nähert sich unter Ihren Augen seinem Bild, wie ein Rauch, bald wird es ein Feuer sein. Sie fühlen das Feuer schon in sich. Als er bei Ihnen in der Mädchenkammer war und davon sprach, berührte es nur Ihr Ohr. Er stand zitternd da, schmutzig, hungrig, gejagt, und der lange gefürchtete Schmerz des Abschieds. Es gelangte nicht zu Ihnen, nun langt es an, nun schmettert es in Ihre Bahnhofshalle, und Sie winden sich und wollen ihm den Eingang versperren und es von sich abwischen. Ob er Erinnyen kennt, weiß ich nicht, aber Sie fühlen etwas davon, vielleicht für ihn, Sie hängen an ihm, lieben ihn, aber das Grauen wächst. Und Sie arbeiten Tag und Nacht, vergeblich, es von ihm zu entfernen.
    Von der Ihnen unbekannten und nur durch meinen Hauch mit Ihnen zusammengebrachten, matten und wieder aufgeweckten Operationsschwester Hilde, die sich jetzt, zwanzig, dreißig Schritt hinter Ihnen in das Städtchen auf der Hauptstraße, der Langen Straße bewegt, läßt sich nicht so viel sagen. Das liegt daran, daß Hilde einfacher, ruhiger und sicherer ist. Sie trägt das Erbe ihres Vaters, eines geduldigen Künstlers und Handwerkers in sich. So was geht friedlich an seine Sache heran, fürchtet sich vor ihr nicht, weil es sich mit ihr verwandt fühlt.
    Was würden Sie dazu sagen, daß diese stolze Hilde, die Brünhildegestalt – Sie begegnen ihr am Paradeplatz vor dem Eintreten in das Café, sie wandert herüber ins Bürgerspital, und Sie denken, wie sie den Markt überquert, wie gut sie es hat, sie geht friedlich an ihre Arbeit –, daß diese Hilde bald dies Städtchen verläßt und sich einer finsteren und schweren Aufgabe entgegenstellt?
    Sie fährt an diesem Mittwochabend nach Straßburg. Sie hatte die Reise nach Württemberg gemacht. Sie war bestürzt zurückgekommen. Der Schmerz über alles, was sie gesehen hat, und dann der Tumult, die Auflösung des Lazaretts, der völlige Umsturz haben sie zuletzt überwältigt. Dann kamen die Stunden mit Maus und Becker. Jetzt, in Straßburg, erwartet sie der Gehilfe ihres Vaters, ein Barbar, ein Tiger. Ein junger Architekt, ein teuflischer Mensch, vor dem sie wehrlos ist. Seitdem sie ihn kennt, sind ihr die Tore zu ihrem eignen Wesen, zu ihrer Natur verschlossen. Bevor er da war, war sie ein Mensch. Sie hat den Krieg fern von ihm zugebracht. Sie weiß, er wurde im Beginn des Krieges verletzt und ist nach Straßburg zurückgekehrt. Sie haben sich nie einen Brief geschrieben, nie einen Gruß bestellen lassen.
    Sie will ihn bestehen.

Straßburg
    Schön und lieblich war Straßburg wie immer.
    Sanft ließ es sich von den breiten grünen Wällen umarmen, die noch aus alten Kriegszeiten stammten. Ein kleiner Fluß rieselte unter seinen Brücken hin, von Rasen und Laubbäumen begleitet, daran knieten Wäscherinnen mit gerafften Kleidern und schlugen ihr Leinenzeug in dem langsamen graugrünen Rinnsal, Gespräche flogen durch die Luft, der weiße Seifenschaum schwamm in Flocken und Ballen von ihrer Arbeit ab in das gute Flüßchen. Altertümliche niedrige Fachwerkhäuser spiegelten sich im Wasser und fanden sich angenehm wie vor zweihundert Jahren. »Nicht älter geworden«,

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