November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
eine neue Grenze, und wir verziehen uns, bis die Arbeit beendet ist.« »Sie können lustig sein.« »Nun, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß der Berg zum Propheten. Sie ziehen mir wöchentlich einmal Knochensplitter aus dem Kreuz, darum tröste ich Sie. Sehen Sie Maus an: er sammelt Zeitungen, die packt er mir täglich auf den Hals. Ich muß die Zahl der abzuliefernden U-Boote, Kanonen und Maschinengewehre auswendig lernen. Ich lerne es nicht.« »Was heißt das, Oberleutnant Bekker?« »Daß ich all diesen Wahrheiten, von wo sie auch kommen, ein kategorisches Dementi entgegensetze. Ich lehne sie ab.«
Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Sie blicken auf meine Kurve, Schwester Hilde. 36,8 – das ist nichts. Ich mache Gebrauch von dem Recht, von dem Schiller gesprochen hat: Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last, greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel und holt herunter seine ewigen Rechte, die droben hangen, unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst. Der alte Urstand der Natur kehrt wieder.«
Maus trat ein, er hatte um den Knöchel der linken Hand einen Strick gewickelt, daran hingen wie Glockenklöppel zwei verschieden geformte Flaschen. Sie trat zu ihm: »Ich wollte mich verabschieden.« »Sie bleibt, Maus.« »Natürlich«, sagte der, legte seine Flaschen auf den Boden und faßte ihren Arm. Sie: »Was wollen Sie mit mir?« Maus drückte sie auf den Stuhl, sie saß, breitete die Arme auf dem Tisch aus, legte den Kopf hin. Sie hörten sie weinen. Als sie sich aufrichtete und um Verzeihung bat, nahm sie von Maus auch ein Glas Wein.
Eine halbe Stunde blieben sie zusammen. Auf Beckers Wunsch kam der sentimentale Trompetenbläser herein, trank aber nicht mit, denn er gestand, er hätte schon fünf Flaschen in seinem Besitz und tränke nur nachmittags. Außerdem hätte man für den Abtransport im Lazarettzug so viel Wein als Vorrat eingepackt, daß er wenigstens heute noch einen nüchternen Tag verleben wolle. Sie sprachen nicht viel. Becker trank mehr als die beiden andern. Er war ungewöhnlich erregt. Er meinte aus seinem Stuhl heraus: »Trübsinn! Trübsinn! Ihr laßt euch bluffen! Ihr seht den Tatsachen ins Auge. Ich sehe eine Zeit kommen, wo die Menschen nur den sogenannten Tatsachen ins Auge sehen und von sonst nichts wissen. Sogar die Liebenden werden sich ihres Realismus rühmen. Eine schöne Welt! Ich schwöre zum Regenbogen! Was heute ist, ist morgen nicht, hokus, pokus, fidibus.«
Er war wirklich leicht angeheitert: »Ich kräftige mich für die Reise nach Deutschland. Man soll sie nicht antreten, ohne sich gesichert zu haben. Mein inneres Auge erhellt sich, so daß es sich der Tatsachen erwehren kann. Ich werde sie in ihr angeborenes Nichts zurückstoßen, die defekten Lokomotiven, die fehlenden Kohlen, die abgerissenen Polster.«
Und er verlangte etwas, was Maus entsetzte – aber er war davon nicht abzubringen –, daß Maus im Garten unter seinem Fenster ein Autodafé veranstalte, mit den Zeitungen, die auf dem Tisch lagen. Das ginge nicht, wand sich Maus, man könne hier kein Feuer machen. So weit sei die Revolution noch nicht vorgeschritten. Becker wurde heftig, Hilde aber warf, plötzlich verändert, zustimmend, mit einem wilden Ausdruck und stumm, die Blätter aus dem Fenster. Das Feuer mußte unter Beckers Fenster angezündet werden. Den zulaufenden Wärtern und Kranken erklärte Maus unten verlegen, es sei Korrespondenz und so weiter, die man nicht in die Hände der Feinde fallen lassen wolle.
Streng, die Fäuste geballt, sah Becker den Qualm an seinem Fenster hochsteigen.
Den linken Arm erhoben, offenbar ohne Schmerzen, predigte er gegen das Fenster hin:
»Es finden sich in alten Büchern Mitteilungen, daß vor langen Jahren auf dem Boden dieser Gegenden Europas sich ein Krieg abspielte, der eine Anzahl Jahre, einige sagen vier, dauerte. In diesem Krieg, hieß es, wurden gewisse Völker besiegt, man nahm ihnen ihren Reichtum, ihre Länder, schändete ihre Ehre. Es dauerte lange, bis diese Berichte, die einen verhängnisvollen Einfluß übten, als Legenden erkannt wurden. Ihnen lagen normale Schwankungen des Glücks zugrunde. Der Schein wurde besiegt. Die Wahrheit triumphierte. Es war eine Versuchung. Man bestand sie.«
Zuletzt rannte Hilde vom Hof herauf – während Maus unten noch heimlich einige Zeitungen rettete – und konnte nicht anders und mußte zum Abschied innig, lange
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