November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
und des ganzen Krieges eingedenk, mit Herz und Seele den Sieger umarmen.
Am Spätnachmittag, in der ersten Dunkelheit, lief in der allgemeinen Verwirrung die Schwester Hilde den Korridor entlang und schlüpfte noch einmal zu Becker. Sie umarmte ihn, sie küßten sich wieder und wieder, sie wollte ihn nicht loslassen, er wimmerte: »Warum kann ich nicht mehr bei dir sein, ich kann nicht aufstehen, ich bin ein Nichts.« Er schluchzte an ihrem Gesicht. Er flehte: »Bleib doch.«
Sie öffnete ihre Bluse und drückte ihre Brüste an sein Gesicht. Er vergrub sich drin. Die letzten Küsse.
Eine Stunde später verfolgte sie im Wirrwarr des Ganges Maus, als sie, schon den Mantel unter dem Arm, das Lazarett verlassen wollte. Er drängte sie in das leere Einzelzimmer, wo Richard, der Flieger, am Sonntag gestorben war. Sie wollte heraus, sie flüsterte: »Es ist Richards Zimmer, mach die Tür auf.« »Du hast ihn geliebt.« Sie: »Was geht es dich an. Ja.« »Zum Abschied, sag mir die Wahrheit, weil ich dich liebe.« »Was wollt ihr von mir. Es ist die Wahrheit.« »Und so läßt du mich weg.«
Sie antwortete nicht. Er kämpfte mit ihr. Er drängte sie gegen das Eisenbett. Sie setzte sich zur Wehr, sie stieß ihn und zischte: »Was fällt dir ein!«
Sie fielen auf die Sprungfedern. Sie warf sich, zerkratzte seinen Kopf, seinen Hals, seine Ohren, sie riß an seinen Haaren und suchte sich ihm zu entwinden. Er kämpfte mit dem rechten Arm, aber mit einem geschmeidigen starken Körper. Sie versagte plötzlich und wurde matt. Er, Gesicht an Gesicht mit ihr, fühlte Tränen über ihre heißen Backen fließen. Sie streckte sich und weinte, ohne einen Laut von sich zu geben. Er küßte sie innig und inniger und gab ihr Koseworte. Sie antwortete nicht und ließ ihn gewähren. Ihr konvulsivisches Zittern hörte auf, als sie in seiner Umarmung lag und eine grausige Wonne ihr das Bewußtsein nahm.
Als sie zwischen den vielen, die im Dunkeln mit Sack und Pack durch das Gittertor ein und aus gingen, in ihrem langen dunklen Regenmantel das Lazarett verließ und schräg über den Damm in das Wäldchen trat, setzte sie sich auf den ersten liegenden Stamm, im Finstern. Es war grade nah genug zur Chaussee, um sich an einer Laterne zu orientieren. Sie saß und saß. Auch das noch. Auch das noch. Ein Zittern in den Gliedern. Bis sie die Kälte aufscheuchte.
Auf der Chaussee, vor der Biegung, drehte sie sich nach dem erhellten Komplex des Lazaretts um. Das Leben schoß wieder in sie. Sie stand aufrecht, freudig.
So ging sie weiter nach der Stadt, kräftig, stolz.
In den Häusern jenseits der Felder, an denen sie stolz und den Blick grade auf die Lichter des Städtchens gerichtet vorbeistrich, wohnte auch eine Frau, die sich von ihrem Geliebten losreißen mußte. Und in diesem Hangen und Bangen, dem Warten und Sehnen, das kommen sollte, war Hanna nun der jungen Schwester Hilde schon um Tage voraus. Wie oft sucht sie die Karte von Deutschland ab und verfolgt den Weg, den sein Zug hat nehmen müssen, wie oft blickt sie hypnotisiert auf diesen schwarzen Eisenbahnknotenpunkt Berlin. Linien senken sich da von allen Seiten ein, aber der Blick saugt sich fest und sucht nur diesen dunklen Punkt zu isolieren und zu sich herzuziehen. Wie oft ist sie nachmittags um die Stunde, wo die Eltern zu dem Begrüßungskomitee gehen, zu der Mädchenstube hinaufgestiegen und hat sich da auf einen Stuhl gesetzt und gewartet und die Gemeinschaft mit dem Abwesenden gefühlt. Aber kein Gefühl konnte ihn wirklich fassen und halten. Und so lebte sie mit Armen und Beinen, Kopf und Leib, in der kleinen Stadt, die jener Abwesende betreten hatte – aber sie war nicht wahrhaftig mehr da, sie war daraus verbannt, jeder Gedanke wehte sie aus der Stadt, und nur die Schwerkraft, das Gewicht der Glieder hielt sie fest.
Wie hin zu ihm?
»Mein Lieber. Mein ganzes Leben. Vielleicht kommt dieser Brief an. Vielleicht kommt er auch nicht an, wie die andern, die Du mir ja beantwortet hättest, wenn Du sie erhalten hättest. Ich fange jeden Brief an: Mein Lieber, mein ganzes Leben, und das sagt Dir, daß ich keins habe und daß ich auf einen Brief von Dir warte, ja warten muß, weil ich zu mir kommen möchte. Lieber, ich kann es schon nicht mehr aushalten. Lieber, ich verzehre mich. Wenn ich nicht bald etwas von Dir höre, wenn ein Wort von Dir mich nicht füllt, so falle ich zusammen. Es sind erst ein paar Tage her, daß Du in dieser Kammer bei mir warst, ich sehe im Kalender, es
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