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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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überließ ihn dem Pfarrer. Nachher latschten diese beiden stundenlang durch die Straßen, die Quais entlang, über Brükken. Weder der Pfarrer noch der Oberförster konnten sich von dem Land trennen. Es war die alte liebe Stadt Straßburg, durch die sie ihren Kummer trugen, und die sich ihr rührseliges Geschwafel, das sich im Kreise drehte, gern gefallen ließ.

    Die liebe Stadt nahm auch sonst vieles in Kauf. Da brummte friedlich ein junges Mädchen, ein Dienstmädchen, im Frauengefängnis ihre Strafe ab, die Revolution hatte sie ihr nicht abgenommen. Sie war in einem Kriegsbetrieb tätig gewesen und hatte einen Ingenieur kennengelernt; sie tat viel, um ihn nicht zu verlieren. Erst log sie, sie erwarte ein Kind von ihm – da blieb er kalt –, dann ritzte sie sich die Haut über den Pulsadern, das erweichte ihn nicht; zuletzt lieh sie sich ein Kind und zeigte es ihm als seines. Da riß ihm die Geduld. Der Staatsanwalt steckte sie für ein Jahr ins Gefängnis, denn das war mehr als Liebe, das war Urkundenfälschung.
    Und für ein junges Ehepaar, namens Haß, das in Schiltigheim arbeitete, bereitete die gute Stadt heute eine besonders neckische Überraschung vor. Sie gingen morgens weg und schlossen sorgfältig die Fensterläden ihrer Parterrewohnung. Aber als sie abends wiederkamen aus Schiltigheim, waren die Läden offen, in der Stube alles durchwühlt, und es fehlte ein Batzen Geld, eine neue Mütze, ein paar neue Herrenschuhe, sogar eine Anzahl wertvoller Ledergürtel und Stiefel, die man sich erst am Dienstag mit Mühe aus einer Kleiderkammer geholt hatte und die das Ehepaar als wertbeständiges Kapital für den kommenden Geldwechsel betrachtete.
    Daß sich die Stadt gegen einzelne Damen nicht hart erwies, versteht sich von selbst. An diesem Freitagnachmittag fand die mollige Witwe, des Pfarrers Begleiterin, was sie gesucht hatte. Es war alles zügellos, warum nicht sie auch? Der Nachmittag mit dem Elegant von der Tanzdiele dehnte sich bis zum Abend aus. Und am Sonnabend früh dachte sie in ihrem Hotelzimmer, ob sie nicht den jungen Tag da weiterführen solle, wo sie ihn gestern verlassen hatte, und besuchte nach langem inneren Kampf zu nochmaligem Abschied ihren Kavalier, und ihr Vormittag dehnte sich – sie dachte, es ist Krieg, es ist Revolution, wann kriegen wir wieder Krieg und Revolution.
    Am Nachmittag aber bekam sie es mit der Furcht, die Franzosen könnten kommen. Und da setzte sie sich auf die Eisenbahn, nach einem heißen Abschied von ihrem nunmehr geschworenen Freund (und sie hatte nun doch einmal in ihrem Leben einen Freund gehabt), und fuhr selig und satt, den schwarzen Witwenschleier wieder über sich geworfen, um nicht von ihrem Glück zuviel zu verraten, mit hohem Mut ausgestattet und dankbar über den Rhein.

    Im Norden rollte langsam der Lazarettzug durch das Land.
    Die Lokomotive ließ sich auf allen Stationen belachen. Es machte ihr nichts aus, das ganze Land war in Not. Als man in der Gegend von Ludwigshafen angekommen war, konnte man den ehrwürdigen edlen Rheinstrom überschreiten, und dann schleppte man sich, erfüllt und beruhigt von diesem Anblick, friedlich durch die Landschaft, die wunderbar an das Elsaß erinnerte, alle Orte hießen »heim«, und in einem »heim«, wo man über Nacht blieb, teils zur Erholung der Lokomotive, teils wegen der besetzten Strecke, schlachtete man das mitgebrachte Schwein unter Hinzuziehung des Ortsschlächters. Und dann setzte die Lokomotive sich wieder in Bewegung, und die Freude einer gesegneten Mahlzeit breitete sich über die Mitfahrer aus.
    Sie blickten, die Suppe schlürfend, schnalzend und kauend zu den Fenstern heraus, sie priesen die schöne Gegend und freuten sich, daß sie von dem lieben Schwein noch einen Abend und den nächsten Mittag haben würden. Das Bier hatte der letzte Ort gestiftet.
    Becker wanderte in dem letzten »heim«, wo das Schweineschlachten vor sich ging, den Zug an seinen zwei Stöcken entlang. Er war groß, ging gebückt und sehr langsam. Er setzte aufmerksam wie ein Blinder jeden Fuß vor sich hin auf den Boden, und wenn das Bein stand, wiegte er sich nach vorn darüber wie auf einer Säule und senkte sich auf das andere. Er mußte jeden Muskel und jede Muskelgruppe einzeln anrufen, man durfte ihn dabei nicht stören, es war eine große aufmerksame Arbeit. Matt und stumm setzte er sich danach in sein Coupé und rauchte eine Zigarette nach der andern.
    Vor dem Kaffee warf Maus, der sich das Zeitungslesen nicht

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