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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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ist Sache der Schwester. Sie überlassen ihn mir einfach, es ist unerhört.
    Wie es acht Uhr war, gab sie sich einen Ruck und sagte leise zu ihm, indem sie seine Hand berührte: »Otto, ich muß nach den Sachen sehen (die Tränen traten in ihre Augen). Deine Kisten sind dabei, die vielen Bücher. Wenn du doch wieder gesund wärest, was machst du für Sachen, läßt mich hier.«
    Draußen wischte sie sich die Augen, stand an der Tür, bis die Schwester kam, sie schluchzte jetzt laut: »Schwester, ich muß an die Luft. Sie müssen mich gehen lassen.« »Ja, gehen Sie nur, Kind, gehen Sie. Kommen Sie mittags wieder. Wir sind ja da. Ja, es ist eine schlimme Zeit.«
    Und sobald die Frau aus dem Pavillon war, geriet sie ins Laufen. Sie rannte, wie von einem Alpdruck gejagt, in Angst, in Verwirrung, durch den schrecklich verwickelten Garten des Hospitals. Endlich kam sie an das Hauptportal. Endlich war sie draußen und beruhigte sich. Und nun ein Auto. Ich fahr’ zur Bahn. Es war ihr so, als wenn sie zu ihrem Mann führe. Das hier war er nicht. Und siehe da, da stand der Zug, ihr Zug. Sie ging an ihm entlang, es waren ihre Leute, man nickte ihr zu, das waren die Sanitäter, da hinten war ihr Waggon. Um das Gepäck hatte sich noch keiner gekümmert. Die Offiziere standen plaudernd vor ihren Coupés und rauchten. Der Koch kam nachgelaufen und fragte nach dem Chef und ob er für sie etwas zurückbehalten solle. Sie stieg in ihr altes unordentliches Abteil, der Koch brachte ihr gleich Kaffee und Brot, sie aß und trank, wischte sich die Tränen und weinte dann heftig los, weil sie nun hier so allein saß, und Otto war drüben, und es war doch gar nicht zu denken, was er machte. Sie krümmte sich vor Angst, als ihr das Schnarchen einfiel. Da hatte sie ihn in das Hospital transportieren müssen, und er hatte noch gestern, vorgestern mit ihr Kaffee getrunken, und seine Kataloge lagen herum. Sie konnte nicht weiterdenken. Was sollte aus allem werden, wenn er nun wirklich stirbt. Es braucht noch nicht zu stimmen. Sie können sich auch irren. Wir haben doch zusammen das Häuschen, und die Gartenarbeit macht er doch.
    Sie weinte leise vor sich. Und als sie mit dem Kaffee und Brot fertig war, suchte sie im Abteil nach seiner Schreibmappe und fing einen Brief an ihren Bruder an, daß sie jetzt mit Otto in Würzburg säße, er sei krank, im Hospital. Und dann fühlte sie sich wieder so mutterseelenallein und fand es so unfaßbar, daß Otto da drüben im Hospital lag und sterben, richtig sterben sollte, daß sie nicht mehr weiterschreiben konnte.
    Der Küchenunteroffizier riß sie aus ihrer Trauer. Er holte das Geschirr ab, und der Kerl, den sie gar nicht kannte, wagte es, weil jetzt Revolution war, ihr zuzunicken und zu sagen: »Na, Frau Oberstabsarzt, ist alles nur halb so schlimm. Sie sehen ja, wie ich humple. Mir haben sie bei den Russen das halbe Bein abgerissen. Aber ich humple, und es geht noch.« Sie blickte beleidigt weg. Sie ging ins Hospital, es hatte sich nichts verändert, es war noch ihr Mann, der da lag, aber es war eine Unsicherheit zwischen ihn und sie getreten.
    Um sieben Uhr zehn abends fuhr der Zug. Eine Stunde über die Abfahrzeit hinaus lebte er. Sie lag zum Abschiednehmen an seinem Hals, aber man hob sie weg und band ihm eine Serviette unter das Kinn und knüpfte sie über dem Kopf zusammen, weil sein Unterkiefer herunterfiel. Das Tuch sah gräßlich und dumm wegen des Zipfels oben aus. Die Schwester sagte: »Es ist nur für ein paar Stunden, nachher nehmen wir es ab.«
    Sie stand daneben, dachte an ihn, an den Krieg, an die langen Jahre vorher und wie gut er war, mit seinen Eigentümlichkeiten, und wie sie sich an ihn gewöhnt hatte. Sie hörte Züge in der Ferne rasseln. Das war sein Lazarett, es glitt in die Finsternis hinweg ohne ihn. Es ist alles vorbei, der Krieg ist aus, uns lassen sie hier.
    Matt stand sie auf. Man fragte sie etwas. Die Beerdigung, ja, wie macht man das.
    Es gab für ihn, wie für viele andere, keine feierliche Offiziersbeisetzung. Man mußte sich still verhalten. Am Wege, auf einem Friedhof in Würzburg, ließen sie seinen Körper liegen.

Wie welke Blätter zerstreuten sie sich
    Das Lazarett, das sein Haupt verloren hatte, brauchte nicht mehr lange Zeit, um sich ganz aufzulösen. Man rollte, schon nicht mehr in Gedanken an den Krieg und an das Städtchen im Elsaß, aus Bayern heraus; das eiserne Großmütterchen, die langhalsige Lokomotive ließ man in Würzburg. Eine frische Maschine

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