November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Er lag mit erhöhtem Oberkörper, beide Arme auf der Bettdecke. Er schnarchte geräuschvoll. Die Augen hatte er geschlossen. In seinem roten eingefallenen Gesicht zuckte und flammte es unaufhörlich. Sie berührte, von Kälte übergossen, vorsichtig eine Hand. Er reagierte nicht.
Er war enorm beschäftigt, offensichtlich. Er schnarchte gewaltig, sägte, furchtbar tief und laut, regelmäßig, als wenn er eine wichtige Arbeit verrichtete. Öfter blies er die Backen auf, und der Atem entwich aus dem Mund, daß die Lippen von innen aufgeworfen wurden und sich Speichelblasen bildeten. Die Tropfen rannen zum Kinn herunter über seine weißen Stoppeln.
Sie sah es, beobachtete es mit Gefühlen, die sie sich selbst nicht traute einzugestehen, Pein, Angst, Ekel, Scham vor der Schwester. Dieses regelmäßige Schnarchen und Sägen und Backenaufblasen. Sie drehte sich zur Schwester um, die noch immer an einer großen Spritze rieb und ihr den Rücken zudrehte, fragte: »Macht – er das schon lange so?« »Oh. Nach vier wurde er unruhig. Dann ging es los. Ich habe gleich Koffein gegeben.« Unsicher stand die Frau da, blickte zwischen der Schwester und dem Bett hin und her: »Warum – macht er denn das? Ist es die Lunge? Bekommt er nicht Luft?« Die Schwester warf ihr einen überraschten Blick zu: »Sie sind doch Arztfrau? Haben Sie keine Kranken gesehen?« »Mein Mann ist aktiver Sanitätsoffizier.« »Ah so. Das ist immer so mit dem Schnarchen. Das machen sie, wenn – Sie sehen ja.«
Darauf nahm die Frau einen Stuhl und saß eine Stunde, zwei Stunden still neben dem Bett. Der Kranke arbeitete immer so weiter. »Sie sehen ja«, hieß offenbar, wenn man stirbt. Sie wischte ihm mit ihrem Taschentuch, dann mit dem Handtuch den Schweiß ab. Wie sie wischte, fiel ihr der Ausdruck Todesschweiß ein, und sie hielt gelähmt vor Entsetzen inne und ließ das Handtuch fallen. Es graute sie. Sie öffnete die Tür und war froh, als die Tagschwester eintrat, die draußen grade mit der Oberschwester der Station ein Gespräch geführt hatte, das damit endete, daß die Tagschwester ihre Oberschwester wegen ihres guten Blicks lobte, denn hätte man den Oberstabsarzt zum herzkranken Oberst geschoben in das Zweibettenzimmer, hätte man mit ihm Ärger gehabt, und dazu hätte man jetzt den Neuen doch ins Einzelzimmer fahren müssen. Die Tagschwester, eine ältere, kräftige Person mit einer Nickelbrille, beobachtete aufmerksam den Kranken. Die Frau hielt sich die Hand vor die Augen: »Wie lang wird das noch dauern, Schwester?« »Ein paar Stunden, kann auch den ganzen Tag gehen, wir haben schon welche gehabt, die haben zwei Tage so gelegen.« »Quält er sich sehr?« »Der? Der merkt nichts.«
Sie beugte sich über ihn, rührte an seine Schulter, redete ihn an: »Herr Oberstabsarzt, Herr Oberstabsarzt! Da, er hört nichts.« Sie wischte ihm rasch über das Gesicht, rückte das Kissen und den Kopf, der zur Seite fiel, zurecht und meinte: »So, nun bleiben Sie ruhig sitzen. Wenn was ist, kommen Sie auf den Korridor.«
Frau Antonie setzte sich gehorsam, das Gesicht nach dem Fenster. Heute haben wir Montag, Donnerstag sind wir abgefahren, das ist Würzburg, ich hätte nie geglaubt, daß ich mit ihm hierher nach Würzburg komme. Das Schnarchen ist furchtbar, furchtbar. Wenn ich mir nur die Ohren zustopfen könnte. Wozu sitz’ ich eigentlich hier. Die Schwester geht weg, und ich muß hier sitzen. So sind sie im Lazarett. Das müßte er wissen. Sie sah auf sein Gesicht, es war bläulich blaß, auf der Stirn bildeten sich wieder kleine Schweißperlen. Er merkt nichts. Das ist Sterben. Es ist eigentlich schon vorbei. Ich bin Witwe. Ich weiß nicht, wann der Transportzug weiterfährt, sie bleiben vielleicht bis Abend an der Bahn, und ich könnte, wenn es hier rechtzeitig aus ist, noch mit dem Zug mit, die Sachen gehen gleich weiter nach Naumburg. Sonst müßte ich sie ja ausladen lassen, vielleicht haben sie sie schon ausgeladen, ohne mich zu fragen. Sie dachte nicht an die Beerdigung. Eine Unruhe bemächtigte sich ihrer. Die Leute können einfach die Sachen auf den Bahnsteig hingestellt haben, und keiner weiß, wem sie gehören, und man schleppt sie weg und stiehlt sie, jetzt in der Revolution. Ich kann eigentlich hier nicht sitzen. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Also noch eine halbe Stunde.
Wie auf Kohlen saß sie die halbe Stunde, mehr und mehr gemartert von dem Schnarchen, eine Angst kam hinzu, Ungeduld. Ich hab’ hier gar nichts zu suchen. Das
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