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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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den Fensterrahmen geklammert, der Zug fuhr ausnahmsweise rasch und schwankte.
    In Würzburg auf dem Güterbahnhof war ungeheurer Betrieb. Schon von der Bahn sah man die rote Fahne in der Stadt. Alle Türen des Zuges öffneten sich, es war spätnachmittags, der Zugführer verkündete, man würde die Nacht und vielleicht noch morgen vormittag hier liegen; in einer Viertelstunde würde man aber erst auf ein anderes Geleis geschoben werden, also nicht den Zug verlassen. Sie blickten zum Fenster hinaus. Sanitäter mit einer Krankenbahre gingen suchend den Zug entlang, Johlen empfing sie aus einigen Fenstern: »Nicht bei uns, wir fahren zu Muttern.« Aber hinten sah man sie halten, wieder einer krepiert, man sprang hinaus, um zu sehen, wer es war. Da stieg eine Dame aus, das war die Frau Oberstabsarzt, ja, der Alte, der wohnt wohl in der Gegend, dann zogen die Sanitäter ihre Bahre vorsichtig aus dem Wagen, den haben sie ja ganz zugedeckt, ist der schon tot, der Oberarzt ging langsam hinter der Bahre her, die den ganzen Bahnsteig entlang hinten über das Geleise getragen wurde. Der alte Oberstabsarzt! Der wohnt hier, nein, den bringen sie ins Spital, na aber, weil er hier wohnt, nein, dem soll es schlecht gehen, er ist herzkrank. Alle bedauerten ihn, dann beschäftigte sie das Rangieren, und man machte sich, soweit man konnte, zu einem Marsch in die Stadt bereit und schmückte sich mit roten Bändern.
    Im Hospital ließen sie die Frau zwei Stunden lang nicht zu dem Mann. Als sie eintrat – er hatte ein kahles Einzelzimmer, eine einzige elektrische Birne brannte oben –, streckte er ihr schon, wie sie die Tür hinter sich schloß, in seiner alten herzlichen Art die Hand entgegen, er rieb ihre kalte Hand zwischen seinen beiden und dankte ihr, daß sie es über sich gebracht habe, ihn aus dem Zug zu nehmen und herzulegen: »Ich dachte es schon manchmal, weil es so rüttelte, Antonie, aber ich wollte es dir nicht zumuten.« Es ging ihm sichtlich besser, aber er wurde doch bald stiller, ernster und eigentümlich geheimnisvoll in seinen hohen Kissen. »Willst du etwas, Otto?« »Nein.« »Du hast genickt?« »So? – Ich – dachte grade über die Ostfront nach. Sie haben einen viel längeren Weg als wir. Hm.« Er habe eine Blutentnahme und eine Serumspritze hinter sich, sagte er dann. »Gott sei Dank, darum hab’ ich dich ja rausnehmen müssen, der Oberarzt konnte es im Zug nicht machen.« »Nein, auf Serum sind wir nicht eingerichtet.« Merkwürdig, daß er mit keinem Wort fragte, warum er das Serum bekam; er freute sich, daß er es bekommen hatte. »Morgen bringst du mir meinen Blumenkatalog, den aus meiner Handtasche«, sagte er im Halbschlaf.
    Aber frühmorgens um sechs Uhr, als sie munter im Hospital erschien – sie war froh, sie hatte seit vielen Tagen sich zum ersten Mal im Hotel ausschlafen können –, kam grade die Nachtschwester aus seinem Zimmer mit einer Flasche Champagner und einer Flasche Kognak. »Wie geht es, Schwester?« Die Schwester erkannte sie nicht gleich. »Die Nacht war zuerst gut. Dann ist das Fieber gestiegen, ich habe ihm Champagner gegeben, der Puls war ungleich.« Die Frau wollte ins Zimmer. Die Schwester schob sich vor die Tür: »Wir müssen erst Herrn Doktor abwarten, ich habe ihn wecken lassen.« Sie blieben stumm vor der Tür, die Schwester beide Hände beladen. Die Frau bat: »Aber lassen Sie mich doch zu ihm.« Sie hörte aus dem Zimmer ein merkwürdiges Geräusch, regelmäßig, und ängstigte sich. »Er schläft wohl? Dann kann ich mich doch dazu setzen.« Da kam ungekämmt, ohne Kragen, im weißen Ärztemantel, der Doktor, ein langbeiniger blasser Herr mit kaltem Ausdruck, machte ohne Gruß die Tür auf, die Schwester folgte. Sie zogen die Tür hinter sich zu. Nach langen Minuten kamen sie heraus, der Arzt betrachtete sie von oben, schlug den schmalen Kragen seines Mantels hoch und bemerkte, nachdem er sich geräuspert: »Sie wollen Herrn Oberstabsarzt besuchen?« Auf ihren angstvollen Blick fragte er zögernd: »Hat Sie die Schwester noch nicht orientiert? So. Ja. Es geht nicht gut. Wir haben noch eine Spritze gegeben. Wie hat denn das angefangen? Der wievielte Tag ist es?« »Seit Dienstag, Herr Doktor.« »Eigentlich kurze Zeit. Ja. So. Das Herz.« Er sah sie noch eine Weile offenbar ohne Gedanken an, schien tief verschlafen, nickte, zog ab.
    Im Zimmer sah sie sogleich alles. Es roch nach Alkohol und Kampfer. Die Schwester säuberte an dem kleinen weißen Tisch Spritzen in Schalen.

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