Novemberasche
Widerstand, Paula strauchelte und in dem Bemühen, nicht zu fallen, fiel
der Knüppel. Paula sah, wie auch die Frau einen Schritt zur Seite tat, um nicht zu fallen. Und dann rannte Paula los, auf
das Tor zu, hinaus auf das Sträßchen. Im ersten Moment hörte sie nichts außer dem Keuchen ihres eigenen Atems, ihren eigenen
Schritten, die auf dem Asphalt knallten. Die Rockschöße ihres Mantels flatterten, und sie hätte ihn gerne ausgezogen. Aber
sie durfte jetzt nicht langsamer werden. Sie lief vorüber an dem roten Wagen, hörte kurz darauf eine Autotür zuschlagen. Sie
wandte sich um, fiel fast. Schemenhaft erkannte sie eine Gestalt hinter dem Steuer. Und dann heulte auch schon der Motor auf.
Noch fünfzig Meter bis zur Bundesstraße, das würde sie doch schaffen. Das Motorengeräusch kam näher, rasend schnell, noch
ein paar Meter, dann hätte die Frau sie erreicht. Würde sie sie über den Haufen fahren, einfach so? Mit einem Satz sprang
Paula zur Seite. Lief schräg über die Wiese in Richtung Straße. Sie konnte bereits die Abgase riechen, noch ein paar Meter,
dann war sie in Sicherheit. Aber auch die Frau fuhr nun über die Wiese. Paulas Lungen schmerzten inzwischen so, dass sie kaum
mehr Luft bekam, aber sie rannte und rannte. Doch das Geräusch kam immer näher. Es konnte doch nicht sein, dass sie hier,
auf einer Wiese bei Immenstaad, überfahren werden sollte, das konnte doch einfach nicht sein. Und gerade, als sie glaubte,
dass es nun kein Entkommen mehr geben konnte, tat es hinter ihr einen Schlag. Die Frau war in eine Bodenwelle gefahren. Und
in dieser Sekunde erreichte Paula die Bundesstraße und rannte mit hoch erhobenen Armen auf die Autos zu.
*
Im ersten Moment glaubte Sommerkorn eine Erscheinung zu sehen: Eine krähenhafte Gestalt, in einen weiten dunklen Mantel gehüllt,
flatterte am Straßenrand auf und ab. Aber das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Gestalt war, dass man, wenn man es nicht
besser gewusst hätte, beinahe hätte glauben können, dass es seine Schwester Paula war, die dort auf- und abhüpfte. Im zweiten
Moment machte der Fahrer vor ihnen eine Vollbremsung und lenkte den Wagen rechts ran. Barbara, die am Steuer saß, tat es ihm
gleich, und so hielten am Ende fünf Wagen hintereinander. Und im dritten Moment bestätigte sich der erste Eindruck: Es war
Paula.
Sie war sehr blass und stammelte wirres Zeug, das Sommerkorn und Barbara aber sofort richtig deuteten. Die beiden Beamten
im Fahrzeug hinter ihnen machten sich an die Verfolgung des roten Wagens, der inzwischen die B31 in Richtung Hagnau entlangraste.
Sommerkorn, Barbara und Paula fuhren den Weg entlang; ein Krankenwagen sowie ein Notarzt waren unterwegs.
Matthias Wölfle und Marie lebten, als Sommerkorn und Barbara das Haus betraten, doch sie waren nicht bei Bewusstsein. Eine
Computertomographie ergab später, dass Marie eine starke Gehirnerschütterung erlitten hatte, vermutlich verursacht durch einen
Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen Gegenstand. Der Junge war stark dehydriert und vollkommen entkräftet. Möglicherweise
war er durch Drogen ruhiggestellt worden.
Eva Imhoff, die nach einer Verfolgungsjagd hinter Überlingen durch eine Polizeisperre gerast und dabei von der Straße abgekommen
war und sich mehrfach überschlagen hatte, wurde schwer verletzt geborgen. In der roten Plastiktüte, die in dem Haus in der
Ziegelgrube sichergestellt wurde, befand sich das Tagebuch von Eva Imhoffs SohnTommy, ein Fläschchen mit K.-o.-Tropfen sowie eine Liste mit sechs Namen: Georg Walser, Leander Martìn, Matthias Wölfle, Sven
Radlowski, Thorsten Ehlers – und Erik Brandauer.
*
Sommerkorn saß am Fenster und schien auf das Ticken der Regentropfen zu lauschen.
»Du hättest mit mir darüber sprechen müssen.« Sommerkorn wirkte noch immer fassungslos.
Marie antwortete nicht gleich. Unter ihrem Kopfverband juckte es, im Zimmer war es warm. Sie schwitzte. Schließlich sagte
sie:
»Hinterher ist man immer schlauer.«
Sommerkorn nickte, und Marie fand, dass er weise aussah und komisch, wie er so dasaß, ernst und aufmerksam. Auch ein wenig
spießig. Ja, dachte sie, warum fiel ihr das erst jetzt auf. Er war – wenn auch nur ein kleines bisschen – definitiv spießig.
Sie wandte ihren Blick ab und sah aus dem Fenster.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie Erik getötet hat. So was passiert doch nicht im realen Leben. Und vor allem
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