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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sie an Helen Kattus und was sie über ihre Arbeiten gesagt hatte.
    »Was ist?«, fragte Sommerkorn, der das Schnauben für ein Lachen gehalten hatte.
    »Ach nichts. Ich habe nur gerade gedacht, wie verdammt ungerecht das Leben ist.«
    »Ungerecht«, wiederholte er nachdenklich. »Das hieße ja, dass es irgendwo dahinter eine übergeordnete Gerechtigkeit gäbe.
     Ich glaube vielmehr, dass da   … nichts ist. Allenfalls vielleicht eine Art Willkür.«
    Marie sah ihn überrascht an. »Ich wusste gar nicht, dass du Atheist bist.«
    »Bin ich auch nicht. Das würde ja bedeuten, dass ich eine feste Überzeugung hätte. Ein fest gefügtes, verneinendes Bild von
     dieser Welt und einem Gott. Aber die habe ich nicht. Ich habe gar nichts, außer Zweifel.«
    Marie schluckte.
    »Ja, wenn man an die beiden da oben denkt, meine Güte, die sind so unschuldig, da können einem wohl Zweifel kommen.«
    Er betrachtete sie schweigend, und sie wich seinem Blick aus, strich sich das kurze lockige Haar aus dem Gesicht, das sofort
     wieder zurückschnellte und sie an der Wange kitzelte.
    »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das alles hier«, Marie beschrieb mit einer Geste den Raum, »dass das alles bald unter
     den Hammer kommt. Es kann doch nicht sein, dass sie
nichts
mehr hat.«
    »Ja, das ist schwer vorstellbar.« Sommerkorn ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, über die drei ausladenden gelben Sofas,
     den Kamin, den Sekretär mit den Einlegearbeiten, die Kokoschka-Lithografien, die ein kleines Vermögen wert waren.
    »Aber selbst wenn das Haus quasi schon der Bank gehört   …Ich meine mich zu erinnern, dass Erik zu ihren Gunsten eine Lebensversicherung abgeschlossen hat.«
    »Dann braucht sie sich also keine Sorgen zu machen?« Maries Stimme war ganz dünn.
    »Ich weiß nicht, wie hoch die Versicherungssumme ist, aber ein paar Hunderttausend werden es sicher sein. Morgen, wenn sie
     aufwacht, frage ich sie danach. Ich will jetzt nicht in ihren Sachen wühlen.«
    »Sicher.« Marie starrte eine Weile nachdenklich vor sich hin. »Und die Beerdigung?« Sie blickte auf.
    »Sie haben die Leiche noch nicht freigegeben. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.«
    Marie schwieg. Sie dachte an Erik, dessen zerschmetterter Körper in einem rechtsmedizinischen Institut in einem Kühlfach lag.
     Stellte sich Paula das auch vor?
    »Die Beerdigung. Ich glaube, dass sie die hinter sich gebracht haben muss, um trauern zu können«, sagte Marie unvermittelt.
    »Ja.« Sommerkorn nickte. »Ich rufe morgen mal bei den Kollegen an und erkundige mich.«
    Sie sahen sich ein paar Sekunden an, dann fragte Sommerkorn: »Und wie geht es dir?«
    Marie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Allein die Frage reichte aus, um sie in Aufregung zu versetzen. »Na ja.
     Wie soll’s mir gehen   … Bei allem, was hier geschieht.« Das ist nur die halbe Wahrheit, dachte Marie und fuhr leise fort: »Ich hatte eine Ausstellung
     in Aussicht.«
    »Du hattest?«
    »Ja. In einer renommierten Galerie in Konstanz. Eine in Sammlerkreisen hoch geschätzte, wie man so schön sagt.«
    »Und warum siehst du dann so bedrückt aus?«
    »Weil es wohl nichts werden wird, wie’s aussieht.«
    »Und warum nicht?«
    »Nun   … Ich war bei der Galeristin, Marlene Kattus, um meine Arbeiten vorzustellen. Sie war ziemlich begeistert, obwohl ich mir
     eigentlich keine großen Chancen ausgemalt hatte. Sie wollte mich sogar im Atelier besuchen, nur weil sie so wenig Zeit hat,
     haben wir einen Termin in Lindau vereinbart. Doch dann kam sie nicht selbst, sondern ihre Tochter, die auch in der Galerie
     arbeitet. Und die war nicht so überzeugt.«
    »Das hat vielleicht gar nichts zu bedeuten.«
    Marie dachte an Helen Kattus’ Gesichtsausdruck, als diese ihre Zeichnungen betrachtet hatte. Sie seufzte.
    »Ich fürchte, dass das doch etwas zu bedeuten hat.«
     
    ☺
     
    ER sagt, die Menschen heute seien vom Wahn der individuellen Selbstverwirklichung befallen. Und dass man sie kurieren müsse.
     Man müsse ihnen zeigen, dass es so nicht weitergeht. Die Ressourcen werden knapp, man weiß, dass die Ölvorkommen hochgerechnet
     noch vierzig Jahre reichen. Der Meeresboden und das All werden als Müllplatz verwendet. Wir müssen etwas tun, sonst ist alles
     dem Untergang geweiht. Das Erstaunliche ist, dass ER auf alles eine Antwort weiß. Keinen Bullshit, nein, Zahlen und Fakten.
    Wir müssen im Kleinen anfangen, das ist das Geheimnis. Wenn wir in Deutschland

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