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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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klarer wird mir: ER HAT RECHT.   Denn alle großen Veränderungen, alle Umwälzungen haben mit einem kleinen Stein begonnen, den irgendwann ein Einzelner ins
     Rollen gebracht hat.
    ER sagt, der Verfall der deutschen Sprache sei unaufhaltsam. Diese ganzen hdgdl- und lol-Idioten. Wenn wir jetzt nicht eingreifen
     und etwas dagegen tun. ER sagt, wir müssen uns zurückbesinnen auf ein bestimmtes Niveau und das auf keinen Fall unterschreiten,
     sonst wird in Deutschland eines Tages kein Wort Deutsch mehr gesprochen. »Geil« sei auch so ein Unwort, da müsste jeder, der’s
     sagt, einen Klaps auf den Hinterkopf bekommen. Manchmal kriegt Matthias eins drauf, aber natürlich nur so zum Spaß.
     
    *
     
    Erst als Sommerkorn Paulas Hausschlüssel aus ihrer Handtasche kramte, sagte sie: »Es ist alles weg.«
    Marie, die ein paar Schritte hinter ihnen stand, verstand nicht recht.
    »Was meinst du?«
    »Es ist alles weg. Geld, Wertpapiere, das Haus. Eriks Firma ist pleite.«
    Sommerkorn ließ den Schlüssel sinken. Entgeistert sah er von Paula zu Marie und wieder zu Paula.
    »Was?«
    Paula nahm ihm den Schlüssel aus der Hand und öffnete die Haustür. Sie betraten die Diele, und Paula ließ den Blick schweifen.
     Sie sieht so verloren aus, dachte Marie. Wenn das stimmte, was sie gerade gesagt hatte, war sie das wohl auch. Oben an der
     Treppe erschienen Leni und Anna, dicht gefolgt von Frau Traubinger. Wie klein und blass und schmal sie sind, dachte Marie
     und sah, dass sie erwartungsvoll ihre Mutter anschauten. Doch Paula sah sich weiter in der Diele um und flüsterte nur: »Alles
     weg.«
    Die Kinder begannen zögerlich die Treppe herunterzusteigen, die ersten Stufen. Weiter kamen sie nicht. Es war, als halte ein
     unsichtbares Band sie zurück. Marie setzte ein aufmunterndes und, wie es sich anfühlte, völlig gezwungenes Lächeln auf und
     ging auf sie zu. Oben angelangt, drehte sie sich um und sah, wie Sommerkorn einen Arm um seine Schwester legte und sie ins
     Wohnzimmer führte.
     
    Viele Stunden später, Frau Traubinger hatte sich längst verabschiedet, lagen die Kinder zu zweit in Annas Bett und waren endlich,
     nach dem dritten Mal
Lotta kann Rad fahren
eingeschlafen. Marie blieb noch eine Weile auf der Bettkante sitzen, das Buch auf dem Schoß, und betrachtete die schlafenden
     Kindergesichter. Leni lag nach außen gewandt, den Daumen im Mund, und nuckelte und schmatzte reflexartig. Anna hatte sich
     an die kleine Schwester geschmiegt, den Arm um sie geschlungen, so, als wollte sie ganz sichergehen, dass die Kleine nicht
     einfach verschwinden würde. So wie ihr Vater einfach aus ihrem Leben verschwunden war. Marie fühlte, wie ihr die Tränen in
     dieAugen traten. Immer noch konnte sie das Unfassbare nicht glauben. Dass diese beiden Kinder, die so zutraulich und fröhlich
     waren, so ohne Arg, dass diese beiden Kleinen nun ohne Vater waren. Für immer. Und unten im Wohnzimmer lag ihre Mutter und
     war nicht ansprechbar.
    Seit ihrer Rückkehr vom Notar hatte Paula kein Wort gesprochen. Wortlos war sie zum Arzneimittelschrank gegangen, hatte zwei
     Schlaftabletten aus der Verpackung gedrückt, sich aufs Sofa gelegt und seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Sommerkorn
     hatte dagesessen und ihr zugesehen, hatte versucht, zu ihr durchzudringen, aber die Schlaftabletten hatten ihre Wirkung bald
     entfaltet.
     
    Als Marie nach unten kam, schlief Paula schon tief, und Sommerkorn saß immer noch in demselben Sessel, in dem er vorher gesessen
     hatte, und sah durch die hohen Fenstertüren hinaus. Sein Blick hatte sich in den unzähligen Lichtchen verloren, die Paula
     in den beiden brutal gestutzten Bäumchen aufgehängt hatte. Marie betrachtete ihn scheu, setzte sich auf das andere Sofa und
     folgte dann seinem Blick nach draußen.
    Vor ein paar Wochen war sie es gewesen, Marie, deren Leben aus den Fugen geraten war. Ein kranker Mann hatte sie als Zielscheibe
     seines perversen Interesses auserkoren und sie mit Botschaften jeder Art beglückt. In diesen Wochen waren Sommerkorn und sie
     sich ein wenig nähergekommen. So nahe, wie sich zwei spröde Einzelgänger eben in ein paar Wochen kommen konnten. Was, wenn
     sie es recht bedachte, nicht sehr nahe war. Sie hatten es noch nicht einmal zu einer innigen Umarmung, geschweige denn zu
     einem Kuss gebracht. Nun lag die Kugel im Roulette des Lebens in Paulas Fach, schoss es Marie durch den Kopf. Nun hatte es
     ihre beste Freundin getroffen. Und danndachte

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