Novemberasche
anfangen aufzuräumen, haben wir eine reelle
Chance, etwas zu ändern. Man muss die Menschen vor ihrem Individualwahn retten. Individualismus ist ein Synonym für Egoismus.
Jeder wurstelt vor sich hin und versucht, so viel wie möglich vom Kuchen zu bekommen.
*
»Hitler-Styling.« Sommerkorn tippte auf das Foto, das Leander und die vier anderen Jungen zeigte.
»Wie bitte?«
»Oder Napola.«
Barbara verstand noch immer nicht. Sie sah übernächtigt und blass aus, ein Spiegelbild Sommerkorns. »Hä?«
»Nationalpolitische Erziehungsanstalten.«
Barbaras Blick hing ungläubig an dem Foto. Dann änderte sich der Ausdruck in ihren Augen und sie blickte auf. Sie sah Sommerkorn
direkt an.
»Du hast recht. Die sehen ja tatsächlich aus wie …«
»Anno Domini 1933. Also bilde ich mir das nicht ein?«
»Nie und nimmer. Das ist …«
»Unglaublich?«
»Unglaublich, ja. Aber hat es etwas zu bedeuten? Für uns, meine ich.«
»Das, liebe Kollegin, gilt es herauszufinden.«
Sie saßen im Besprechungszimmer, sämtliche Beamten der Kripo Friedrichshafen sowie drei andere Kollegen, die von den umliegenden
Dienststellen für die SOKO Martìn abgezogen worden waren. Es war kurz vor acht, und draußen war der Berufsverkehr in vollem
Gange. Kälte und Feuchtigkeit drangen durch das geöffnete Fenster in den Raum, trotzdem war die Luft schlecht, beinahe stickig.
»Wir müssen die Mitschüler und die Lehrer befragen, die Freunde. Der Junge war im Karateclub, hier in Friedrichshafen. Ich
war gestern bei den Eltern. Sie wissen nichts oder wollen nichts wissen, schwer zu sagen. Vielleicht sollten wir noch mal
mit der Mutter alleine sprechen. Aber eines ist klar: Der Laptop des Jungen fehlt. Und sein Handy.«
Barbara stand auf und schloss das Fenster.
»Ihr fangt mit den Mitschülern an.« Sommerkornnickte Hauptkommissar Martin Inkat, seinem Stellvertreter, zu, sowie Hansjörg Möller und zwei weiteren Kollegen.
»Und wir«, er sah Barbara an, »übernehmen die Lehrer. Zuerst die Klassenlehrerin, Frau Bärlach.«
»Dann werde ich mir mal den Karateverein vornehmen«, sagte ein neuer Kollege, der vor einer Woche in der Polizeidirektion
Friedrichshafen seinen Dienst begonnen hatte.
Sommerkorn nickte. Er zog die Akte Martìn zu sich heran und nahm den Zettel zur Hand, auf dem er sich Stichpunkte notiert
hatte.
»Ach, und eins noch. Wir sollten darüber nachdenken, welche Bewandtnis es mit dem Fundort der Leiche auf sich hat. Wurde der
Junge bewusst auf dem Friedhof – ich sage jetzt mal – arrangiert?«
Die Kollegen schwiegen, Sommerkorn blickte in die Gesichter, die blass aussahen im Neonlicht des Besprechungszimmers.
»Vielleicht irgendwelche satanischen Rituale?« Martin Inkat hob die Augenbrauen, klopfte mit dem Kugelschreiber nervös auf
den Tisch.
»Die Verletzungen an den Handgelenken, meinst du?«, fragte Sommerkorn.
»Das kombiniert mit dem Ort und dem Zettel … gruselig.«
»Vielleicht ist es eine Botschaft?«
»Für wen? Die Polizei?«
»Die Polizei, die Umwelt, die Presse … Auf jeden Fall werden wir uns den Ort noch einmal ansehen müssen. Das übernehme ich.« Sommerkorn blickte Inkat an.
»Was ist mit der Kippe, die man auf dem Nachbargrab gefunden hat?«
Möller hatte die Hände vor der Brust gekreuzt und saßmit geradem Rücken da. Seine Bandscheiben, dachte Sommerkorn.
»Ist noch bei der DN A-Analyse . – Also dann.« Sommerkorn stand auf und nickte den anderen zu.
Zurück in seinem Büro, griff er zum Telefonhörer. Er zögerte kurz und wählte dann die Nummer der Ravensburger Polizei.
»Sommerkorn hier.«
»Ach, du bist’s. Dich wollte ich gerade anrufen. Jetzt bist du mir zuvorgekommen.«
»Dann gibt es also was Neues?«
»Ja, gibt es. Ihr könnt ihn beerdigen. Der Fall ist abgeschlossen.«
Sommerkorn merkte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. »Dann habt ihr herausgefunden, wie es war.«
»Sieht so aus. Aber ihr wisst ja wahrscheinlich selbst schon, dass Erik Brandauer völlig pleite war.«
»Ja.« Sommerkorn schluckte. Das wussten sie. Er dachte an Paula, die er heute Morgen auf dem Sofa zurückgelassen hatte. Zum
Glück war Marie bei ihr. Aber wie lange würden sie beide das noch schaffen? Paulas Apathie nahm Formen an, die über eine normale
Trauer weit hinausgingen. Wenn man so etwas überhaupt genau definieren konnte.
»… gehen wir also davon aus, dass es ein Unfall war … dass Erik Brandauer den
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