Novemberasche
Eltern
und Lehrer von ihm zeichneten.
Die Luft im Zimmer war abgestanden, und Sommerkorn erhob sich, um ein Fenster zu öffnen. Das junge Mädchen vor ihnen war ohnehin
in eine dicke Jacke und bis zur Nasenspitze in einen Wollschal gehüllt.
Barbara machte den Anfang: »Ihr Name?«
»Viktoria Rosenthal.«
»Sie sind ebenfalls in Jahrgangsstufe zwölf?«
»Ja.«
»Sie kannten Leander Martìn?«
»Na ja, klar.«
»Wie war er? Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«
Sie runzelte unmerklich die Stirn, und Sommerkorn glaubte, auf ihrem Gesicht ein Aufflackern von Unsicherheit zu erkennen,
ein Ringen um eine Entscheidung.
»Wir sind für jeden Hinweis dankbar. Erzählen Sie einfach, was für ein Typ er war.« Barbara lächelte ihr aufmunternd zu.
»Was für’n Typ …« Einen Moment lang schien das Mädchen durch Barbara hindurchzusehen.
»Ja. Was für ein Typ Mensch war er? Dass er ein guter Schüler war, wissen wir bereits. Aber darüber hinaus: War er beliebt?
Mochten die anderen Schüler ihn?«
Viktoria sah von Barbara zu Sommerkorn und wieder zurück.
»Wir waren eine Zeit lang zusammen«, sagte das Mädchen.
»Sie und Leander waren ein Paar?«
»Ja. Vorübergehend.« Sie schnaubte verächtlich.
»Wie lange waren Sie zusammen?«
»Ein paar Wochen, vier vielleicht.«
»Und wie lange ist das her? Sie waren nicht mehr liiert, als er starb?«
»Nee … das war am Anfang, als er auf unsere Schule kam, vor etwas über einem Jahr.« Viktoria, die ihren Rucksack auf dem Schoß
hatte, knetete nervös an einem der Träger.
»Also im letzten Herbst?«
»Hm.«
Barbara stand auf und schloss das Fenster.
»Und wie war er so – Leander?«, fragte sie.
Viktoria knetete nun heftiger. »Was sagen denn die anderen über ihn?«
»Im Moment interessiert uns, was Sie über ihn sagen.«
Sie wurde unruhig, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, ihre Augen zuckten. Plötzlich brach es aus ihr heraus: »Leander war
ein Spast!«
Barbara und Sommerkorn wechselten einen kurzen Blick. So beiläufig wie möglich fragte Sommerkorn: »Können Sie das näher erläutern?
Was genau meinen Sie damit?«
Wieder schwieg sie, doch diesmal schien sie nach den richtigen Worten zu suchen.
»Der hatte Ansichten, da lief es mir kalt den Rücken runter. Aber das habe ich erst mit der Zeit gemerkt. Am Anfang hat mir
das gefallen. Der war total gegen Drogen und so. Ich fand’s auch gut, dass es endlich mal einen Jungen gab, der nicht irgendwelche
blöden Bemerkungen vom Stapel ließ, wenn ein Mädchen ein Referat hielt oder so. Der fand’s auch blöd, wenn Leute zu spät kamen
oderden Unterricht störten. Immerhin wollen die meisten was lernen, und bald geht’s los mit den Abi-Prüfungen – wir sind ja die
Ersten von G8. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass er richtig abartige Ansichten hatte …«
Sommerkorn fühlte sich auf einmal hellwach und hatte das Gefühl, gerade etwas sehr Wichtiges zu hören. Er beugte sich vor,
stützte die Ellenbogen auf den Tisch und fragte: »Was genau waren das für Ansichten?«
»Wie soll ich sagen? Der wollte alle weghaben, die anders waren.«
Barbara hörte auf, mit dem Stift auf den Tisch zu klopfen, und auch sie beugte sich vor. »Was meinen Sie mit ›weghaben‹?«
»Na ja, der hat zum Beispiel gesagt, Benni ist ein vollgefressenes Schwein und für Leute, die sich so gehen lassen, sei hier
kein Platz … Die waren total bescheuert.«
»Sie sagen ›die‹, wer war denn noch in der Clique?«
Sie zögerte, und eine Veränderung schien in ihr vorzugehen. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
»Hören Sie, ich will niemanden anschwärzen oder so. Und immerhin ist es ja Leander, der tot ist.«
»Ja, und wenn das zutrifft, was Sie uns soeben erzählt haben, dann gab es vielleicht Leute, die einen Grund hatten, Leander
nicht zu mögen. Wir bitten Sie also, ganz offen zu uns zu sein.«
Eine Weile sagte sie nichts, dann brach es aus ihr heraus: »Ja, und dann bin
ich
dran!«
»Selbstverständlich werden wir alles, was Sie uns sagen, vertraulich behandeln.«
Wieder blickte Viktoria von einem zum anderen, stand wortlos auf, ging zur Tür, öffnete diese und sah hinaus. Sie schloss
die Tür wieder und kehrte zu ihrem Stuhl zurück.
»Leander und Matthias. Eine Zeit lang war Thomas auch dabei.«
»Was genau haben diese Jungen gemacht?«
»Hören Sie, ich weiß das alles nicht genau. Ich vermute das nur. Aber dass irgendwer was gemacht hat, das
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