Novemberasche
nicht weiter, sagt ER. Wir müssen handeln. Langsam glaube ich das selbst. Die Flugblattaktion hat keine Wirkung gezeigt. Aber welche hätte sich auch
zeigen sollen?
ER hat Kontakt zu welchen in Norddeutschland und aus dem Osten. Da sind sie viel aktiver, klar, die haben dort auch mehr Probleme.
Hier ersticken die Leute ja an ihrem eigenen Wohlsein und wollen doch nichts abgeben. Obstipation, sie leiden an geistiger
Obstipation. Eine Folge des Hedonismus. Ihre Zellen sind vom vielen Fressen und Saufen so träge geworden, dass sie nicht mehr
klar denken, klar sehen, klar hören können. Die Zeit des Dialogs ist jetzt vorbei.
*
»Wer behauptet das?«
Matthias Wölfle, Leander Martìns bester Freund, lümmelte auf dem Sofa.
»Das tut nichts zur Sache.«
»Wir sollen also andere gemobbt haben. Was ist denn das für’n Scheiß. Als ob wir nichts Besseres zu tun haben, als Selim die
Luft aus dem Reifen zu lassen.«
»Und sein Fahrrad zu demolieren.«
»Das war’n wir nicht. So’n Müll machen wir nicht. Wir sind in der Schule, um was zu lernen.«
»Und Benni?«
»Hä?«
»Benni. Benjamin Bienzle.«
»Was soll mit dem sein?«
»Sie sollen ihn wegen seines Übergewichts gemobbt haben.«
»Klar ist der fett. Aber was haben wir damit zu tun?Mann, wer hat Ihnen all den Scheiß erzählt? Das war doch bestimmt Vicky, diese Bitch.« Er richtete sich auf, stellte die Füße
auf den Boden und saß breitbeinig da, die Arme auf die Beine gestützt.
»Wie kommen Sie auf Viktoria?«
Matthias schnaubte verächtlich und verzog die Mundwinkel. Ein sympathischer Kerl, dachte Barbara und warf Martin Inkat, der
sehr aufrecht in einem Sessel saß, einen forschenden Blick zu. Aber sein Gesicht gab keine Emotionen preis.
»Wie kommen Sie darauf, dass Viktoria uns die Information gegeben hat?«, wiederholte Inkat ruhig seine Frage.
»Wer soll’s denn sonst gewesen sein? Die war doch so was von genervt von Leander.«
»Und warum?«
»Na, weil der ziemlich bald die Nase voll hatte.«
»Leander hat die Beziehung beendet?«
Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus. Eines von der Sorte, das man fies nennt, dachte Barbara und tippte
mit dem Kugelschreiber auf ihren Block.
»Die waren ja auch gar nicht richtig zusammen. Sie ist ihm hinterhergelaufen. Leander wollte eigentlich gar nichts von der.
Aber dann … Jedenfalls ist sie ihm ziemlich bald heavy auf die Nerven gegangen. Und dann war da die Sache bei der Weihnachtsfeier.«
»Was für eine Sache? Was ist da passiert?«
»Leander hatte einfach keinen Bock mehr auf sie. Die ist auch wirklich so was von zickig. Im Ethikunterricht sollten Sie die
mal erleben. Wahnsinn … Auf jeden Fall war Leander dann mit Maike zusammen, hat sie an der Hand gehalten und geküsst. Als Vicky das gesehen hat,
ist sie total ausgerastet. Sie ist zu Leander hin, hat ihn beschimpft, vor allen, als rechtsradikales Schwein. Ich sag Ihnen,
die Frau ist so was von durchgeknallt …«
»Und?«, fragte Barbara und fixierte Matthias Wölfle.
»Was und?«
»War er ein rechtsradikales Schwein?«
*
Es war ein grauer Novembertag, und für Paula sahen die schwarzen Gestalten, die um den aufgebahrten Sarg auf dem Aeschacher
Friedhof herumstanden, wie eine Versammlung von Krähen aus.
Die Leiche war freigegeben worden, die Ermittlungen in Sachen Erik Brandauer abgeschlossen.
Man sollte den Advent nicht mit einer Trauerfeier beginnen müssen, dachte sie. Niemand sollte das. Und doch bin ich nun hier,
bin selbst eine Krähe. In schwarzem Gefieder, steifbeinig und frierend stehe auch ich hier herum und warte darauf, dass dieser
Albtraum zu Ende geht, dass die Trauergäste fortgehen, dass der Sarg meines Mannes abgeholt und ins Krematorium gebracht wird.
Dann wird nur noch Asche übrig sein. Ein Mensch, der Asche wird. Mein Mann. Ein Leben, das zu Asche wird. Mein Leben.
Der Pfarrer stand vor dem Sarg, ein schneidender Wind wehte durch sein braunes Haar – es war fast schulterlang, zu lang für
einen Pfarrer – und trug die Worte, die er sagte, davon, in eine andere Richtung.
Sie stand hier, in ihrer Fassungslosigkeit gefangen, und konnte es nicht glauben. Es war gerade so, als bestehe sie aus zwei
sich widersprechenden Teilen. Dem einen Teil, der weiß, dass nie mehr etwas gut werden wird. Und dem anderen, der hin und
wieder aus dieser Dumpfheit aufnickt, und sich fragt, was Erik dazu sagen würde, wenn sie ihm von ihrer
Weitere Kostenlose Bücher