Novemberasche
Traurigkeit erzählte,
davon, wie entsetzlich alles war. Und dann der Rückfall in die Gewissheit, dasssie ihm nie wieder irgendetwas würde erzählen können. Er soll Haschkekse gegessen haben, um zu vergessen. Vielleicht wollte
er für immer vergessen? Noch immer sah sie das Gesicht des großen Polizisten vor sich. Er war so groß, dass sie hatte zu ihm
aufschauen müssen.
Verkrallt in ihre Hand spürte Paula die kleinen Finger ihrer Tochter Anna. Links neben ihr stand Andreas, ihr Bruder, und
hielt Leni im Arm und rechts neben ihr Marie, in ihrem schwarzen Cape, auch sie eine Krähe unter ihresgleichen. Wie hat er
uns das nur antun können, dachte Paula. Warum hat er nicht mit mir darüber gesprochen? Wir hätten das gemeinsam durchgestanden
.
Sie schluckte und hörte die Stimme des Pfarrers wie von ferne an ihr vorüberziehen. »Und in den Nächten fällt die schwere
Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit …« Rilke. Marie hatte das Gedicht ausgesucht, Paula, die diese Worte schon immer schwer ertragen hatte, spürte, wie die Tränen
von irgendwoher kamen, wie ihre Kehle eng wurde und sie fast keine Luft mehr bekam. Heiß fühlte sie sie über ihre Wangen laufen,
spürte eine warme Hand, die die ihre umschloss. Das musste Marie sein, ja, ihre Freundin aus Kindertagen, die sie erst vor
ein paar Monaten wiedergefunden hatte. Jetzt nur nicht die Fassung verlieren, dachte sie und drückte Maries Hand so fest,
dass sie meinte, für alle Zeit in dieser Umklammerung verharren zu müssen.
Der Aeschacher Friedhof war ein würdiger Ort für eine Trauerfeier. Weitläufig erstreckte sich das Gelände bis hin zum Golfplatz,
durch ein kleines Waldstück, in seiner Mitte schlängelte sich ein Bach, und Efeukleider schmückten alte Baumriesen. Hinter
dem schwarzen Geäst einer Esche war ein Fenster im Grau des Himmels, ein gelbliches Loch in der Wolkenmauer, an den Rändern
aufgerissen, zerfranst. Paula sah, wie Pfarrer Wellauer jetzt den Sarg besprengte, mit einer anmutigen, einer zu diesemAnlass beinahe anstößig leichten Geste. Völlig versunken in die Bewegungen des Pfarrers, spürte Paula einen behutsamen Druck
am Arm und bemerkte den Blick des jungen Pfarrers auf sich. Dann zogen sie an ihr vorbei, sie sah sich selbst beim Kopfnicken
und Händeschütteln zu, und ihr Blick fiel auf Andreas, der immer noch links von ihr stand. Seine bloßen Hände ragten aus den
anthrazitgrauen Ärmeln seines Mantels und umfassten die kleine Kindergestalt. Er hatte schon als Junge keine Handschuhe tragen
wollen. Es war so still an diesem Morgen, alles war gedämpft, wie in Watte gepackt, das Scharren der Schuhe im Kies, das Murmeln
der Trauernden. In der Ferne hörte Paula einen Zug, und ein einziger Vogel sang. Vielleicht wollte er den nahenden Winter
fortsingen, seine Laute klangen zögerlich, als mochte er selbst nicht recht an ein Gelingen glauben.
Da erst fiel Paulas Blick auf die Frau, die am Rande einer kleinen Gruppe stand und ein Mädchen an der Hand hielt, vielleicht
drei oder vier Jahre alt. Das mussten sie sein, die Fallschirmspringer, schoss es Paula durch den Kopf. In all den Jahren
habe ich nicht einen von ihnen kennengelernt, aber ja, das mussten sie sein. Die Gruppe bestand aus sechs Männern und drei
Frauen. Paula wusste nicht zu sagen, warum gerade diese Frau ihre Aufmerksamkeit erregte. Aber etwas war an ihr, ihre Haltung,
die Art, wie sie die Schultern leicht nach vorne hängen ließ, oder vielleicht war es auch ihre rechte Hand, die schlaff und
reglos aus dem Ärmel ihrer schwarzen Jacke hing, so als wüsste die Frau nicht, was sie mit dieser Hand anfangen sollte. Aber
das eigentlich Bestürzende an ihr war der Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht, den Paula nicht recht deuten konnte. Einen kurzen
Moment lang kreuzten sich ihre Blicke, der der Frau und Paulas. Dann spürte Paula, wie jemand – Marie – sie unterhakte und
fortzog, sanft, aber mit Nachdruck. Sie führte sie zwischen den Grabreihen entlang, zwischen Efeuund Buchs, flechtenbewachsenem Stein und Grabkreuzen. Es roch würzig und feucht, ein wenig säuerlich. Es hatte zu regnen begonnen,
und die immergrünen Blätter glänzten. Am Friedhofstor blickte sie sich noch einmal um, aber die Frau war verschwunden. Dann
spürte sie Maries Hand warm und fest auf ihrer, sie wurde sanft durch die Pforte gedrückt, die jemand hinter ihr mit einem
Klacken zuzog. Vor dem lachsfarbenen Haus des Steinmetz
Weitere Kostenlose Bücher