Novemberasche
auf der anderen Straßenseite stand ein Bäumchen mit Lichterketten
inmitten von Grabsteinen, es funkelte, und Paula dachte, dass der Advent doch noch gar nicht begonnen hatte. Und dass der
November der Monat der Toten war.
☺
ER hat einen Plan, und der erste Schritt zur Realisierung sei die Herstellung einer Brandbombe. Aber wozu, habe ich gefragt.
Du wirst schon sehen, hat ER geantwortet.
*
Nach der Trauerfeier hörte Sommerkorn seine Mobilbox ab. Martin Inkat bat zweimal um Rückruf. Sommerkorn warf einen sorgenvollen
Blick auf Paula, die nun alles wusste – von der anderen Lebensversicherung und dem Kind, Cheyenne Cameron. Zu meiner Zeit
hießen die Mädchen Petra oder Sabine, dachte er zerstreut und wandte sich wieder seinem Mobiltelefon zu. Der dritte Anruf
war von Barbara, die sich nach Paula erkundigte. Dann war da noch die Stimme eines Jungen, dessen Worte in einem Rauschen
unterzugehen drohten. Er müsse den Kommissar unbedingt sprechen. Sommerkorn legte das Handy auf den Tisch und setzte sich
zu Paula auf den Sofarand.
»Paula?«
Sie lag einfach da und drehte nicht einmal den Kopf in seine Richtung. Die Luft war abgestanden, es roch dumpf, nach Schlaf
und Stagnation.
»Hier, trink das. Es wird dich ein bisschen …« Aufmuntern? Beleben? Anregen? Sommerkorn ließ die Hand mit der Tasse sinken. Wie sinnlos mussten ihr seine Worte vorkommen,
wie sinnlos kamen sie ihm selbst vor. Sie reagierte nicht und hatte das Gesicht zum Rückenteil des Sofas gedreht. Er konnte
es ja selbst nicht glauben. Erik hatte mit einer anderen Frau ein Kind gehabt. Er war mit einer anderen während seiner Ehe
zusammen gewesen. Erik, der immer so geradeheraus und so rechtschaffen gewesen war.
Sommerkorn stellte die Brühe auf den Couchtisch, unter dessen quadratischer Glasplatte eine Sammlung schillernder Knöpfe in
kleinen, mit Samt ausgeschlagenen Fächern ausgestellt war. Er warf noch einmal einen Blick auf Paula, auf ihren Rücken, der
so abweisend und so verletztlich war. Er hatte es ihr gesagt. Und sie hatte ihn mit weit aufgerissenen Augen angesehen.
Er ging zu den Fenstertüren, öffnete sie, ging weiter zu sämtlichen Fenstern und ließ die kalte, klare Abendluft hereinströmen.
Das alles erinnerte ihn an etwas, an eine Vergangenheit, die er längst hinter sich geglaubt hatte. Arlene, seine geschiedene
Frau, hatte Tage liegend an sich vorüberziehen lassen, unfähig, sich der Wirklichkeit, dem, was man Leben nannte, zu stellen.
Er sah in den Garten hinaus. Die winzigen Weihnachtslichtchen brannten immer noch; seit Tagen kümmerte sich keiner mehr darum,
sie spätabends auszuschalten.
Er wartete ein paar Minuten, bis es kalt im Zimmer war und die Luft frisch. Dann schloss er die Fenster und Türen wieder,
ging zu Paula zurück und berührte sie sanft am Arm. Nur kein Mitleid, nicht den dicken Kloß verraten,der in der eigenen Kehle steckte, das machte alles nur noch schlimmer. Das wusste er aus Erfahrung.
Ihnen lief die Zeit davon. Ihm lief sie davon. Die Ermittlungen im Fall Martìn, der Druck, der daraus erwuchs. Paula, für
die er da sein musste. Die Kinder. Er hätte längst wieder im Büro sein müssen, Freitagabend hin oder her, sie mussten weiterkommen.
Vielleicht sollte er Frau Traubinger bitten. Sicher wäre sie bereit, die nächsten Wochen … Sein Handy begann zu dudeln. Unbekannter Teilnehmer.
»Sommerkorn.«
»Äh … Hallo?«
Sommerkorn erkannte die Stimme sofort. Im Hintergrund, wie auch schon auf der Mobilbox, das Rauschen. Ein Motor?
»Du hast bei mir aufs Band gesprochen. Worum geht es?«
»Äh … Es geht um Leander. Es gibt da was, das würd ich Ihnen gern erzählen.« Der Junge klang unsicher.
»Wie ist dein Name?«
»Ich heiße … Können wir uns treffen?«
»Ja, aber du solltest mir schon deinen Namen sagen.«
»Wollen Sie’s denn hören oder nicht?«
Sommerkorn überlegte. Das Ganze konnte ein Scherz sein. Aber genauso gut konnte es sich um eine wichtige Information handeln,
die ihm nicht entgehen durfte.
»Gut, dass du anrufst. Wir freuen uns über jeden Hinweis.« Freude ist vielleicht nicht das richtige Wort, dachte Sommerkorn.
Die Ereignisse und Entdeckungen der letzten Tage hatten ihn müde gemacht.
»Kannst du morgen in die Polizeidirektion kommen? Vielleicht gleich morgens um acht oder neun?«
»Da kann ich nicht. Aber jetzt … Ich könnte jetzt.«
Sommerkorn sah hinüber zum Sofa.
Weitere Kostenlose Bücher