Novemberasche
Paula sah so hilflos aus. Er konnte sie jetzt unmöglich allein lassen.
»Ich habe im Moment keine Zeit. Aber ich könnte eine Kollegin vorbeischicken, die deine Aussage aufnimmt.«
»Ich würd aber gern mit Ihnen sprechen. Sie sind doch der Chef – oder?«
»Ja. Das bin ich. Aber im Moment …«
Am anderen Ende der Leitung rauschte es.
»Hallo? Bist du noch da?«
»Sie suchen doch Leanders Mörder …«
Sommerkorn sah noch einmal zu Paula hinüber.
»Gut, dann sofort. Wo bist du im Moment?«
»An der Uferpromenade. Yachthafen.«
»Willst du in einem Café auf mich warten? Es wird wohl eine halbe Stunde dauern.«
»Nein … Ich warte lieber hier.« Die Stimme des Jungen klang jetzt sehr dünn.
»Bei der Kälte? Aber gut, wie du willst.«
Sommerkorn wollte noch etwas sagen, aber der Junge hatte schon aufgelegt.
Der Abend war kalt und sternenklar, und die Wolken, die heute auf dem Friedhof Erik den letzten Gruß entboten hatten, waren
fort. Die alte B31 lag einsam und dunkel vor ihm, und während die Scheinwerfer seines Wagens einen Lichtkegel in die Dunkelheit
schnitten, rätselte Sommerkorn, was der Junge ihm wohl erzählen würde. Er fuhr zu schnell, passierte Wasserburg und Nonnenhorn
und gleich hinter der Ortseinfahrt von Kressbronn rauschte er mit mehr als achtzig Stundenkilometern in eine Radarkontrolle.
Das Blitzen war nicht zu übersehen. Voller Unmut stand er in Kressbronn vor einer roten Ampel und trommelte mit den Fingern
aufs Lenkrad. Bevor er Paula und die Kinder allein gelassen hatte, hatte er eine Nachbarin gebeten, ihnen Gesellschaft zu
leisten, bis er wiederkäme. Wie lange würden sie diesen kräftezehrenden Spagat nochdurchhalten? Wie lange würde Paula brauchen, bis sie wieder in der Lage wäre, ihr Leben selbst anzupacken?
Hinter Eriskirch bog Sommerkorn von der Bundesstraße ab und sah schon bald darauf die ersten Lichter von Friedrichshafen.
Ein Blick auf den Tacho zeigte, dass er erneut viel zu schnell fuhr. Hundertzwanzig. Fehlt noch ein zweites Radargerät, dann
würde sich das Bild des Polizisten bestätigen, der stets mit gutem Vorbild voranrast, dachte er. Auf einmal war da eine Ahnung,
und plötzlich wusste er, dass es etwas Wesentliches gab, das er übersah. Er bremste auf achtzig herunter, und der Gedanke
verflüchtigte sich so rasch, wie er gekommen war. Schließlich stand Sommerkorn vor dem Kinocenter an der Ampel. Was war so
dringend, dass ein Jugendlicher, dem doch nichts wichtiger war, als möglichst lässig rüberzukommen, seine Coolness aufgab
und einen Bullen treffen wollte? Unbedingt. Sofort.
Er parkte den Wagen in der Tiefgarage des Graf-Zeppelin-Hauses. Als er die Stahltür aufstemmte und aus der Wärme des Parkhauses
in den eisigen Wind trat, fröstelte er. Er schritt rasch aus unter den Bäumen am Rande des Parks, der wie eine schwarze Höhle
dalag. Noch bevor er die Seepromenade erreichte, hörte er die Wellen an die Uferbefestigung klatschen. Die Laternen waren
Inseln in einem Meer der Dunkelheit. Während er sich dem Yachthafen näherte, tastete er mit zusammengekniffenen Augen die
Promenade ab, auf der Suche nach einer einsamen Gestalt, die dem Wind und dem Sprühregen trotzte.
Im Lichtkegel einer Laterne sah er auf die Uhr: Er hatte zwanzig Minuten gebraucht, weniger als erwartet, vielleicht war der
Junge noch einmal weggegangen. Sicher würde er bald auftauchen. Sommerkorn ging am Hafenbecken auf und ab, sein Blick blieb
an der schwarz glänzenden Wasseroberfläche hängen. So unwirtlich hatte erden See selten gesehen. Wer ging auch schon an so einem Abend am Wasser spazieren. Im Schein der Laternen konnte er sehen,
dass im Hafenbecken noch ein einzelnes Boot lag, ein kleines Segelboot, das selbst im diffusen Licht heruntergewirtschaftet
aussah. Er blieb stehen und betrachtete es, sah den abblätternden Lack, wie es hin und her schwankte und an den Tauen zerrte.
Unwillkürlich dachte Sommerkorn an die Sommertage, die dieses Boot gesehen haben mochte, daran, wie es leicht übers Wasser
glitt im Sonnenschein. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren, Schritte, die sich näherten, leise knirschten Steine unter Absätzen.
Sommerkorn kniff die Augen zusammen. Da war jemand, eine Gestalt schritt in den Lichtkegel, sie hatte langes Haar, eine Frau.
Enttäuscht wandte er sich ab, und begann wieder auf und ab zu gehen.
Nach einer halben Stunde gab er auf. Durchgefroren und mit steifen Fingern drehte er
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