Novemberasche
vornahm. Um Eva herum tanzte die kleine Cheyenne, Stellas und Eriks Tochter, die festes Mitglied der Fallschirmspringerclique
zu sein schien.
»Sie ist Packwart und Coach und hat so viele Sprünge, dass sie aufgehört hat zu zählen. Hey, Eva!«
Stella lachte. Eva hatte ihre Tätigkeit unterbrochen und schaute zu ihnen herüber. Einen Moment lang sah sie Marie fragend
an, machte dann einen großen Schritt über ihren Schirm hinweg und ging langsam auf die beiden zu. Die kleine Cheyenne zupfte
Eva am Pullover, aber diese hielt ihren Blick konzentriert auf Marie.
»Ich wollte dir Marie vorstellen, ich hab dir doch von ihr erzählt. Sie war gestern bei mir im Laden.«
Eva nickte und streckte die rechte Hand aus, Marie ergriff sie und dachte im selben Moment: Was für eine hübsche Frau. So
zierlich und grazil. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie mit einem Fallschirm auf dem Rücken aus einem Flugzeug springt.
In der Tat sah Eva eher aus wie eine Tänzerin. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt, und sie hatte es im Nacken zu einem
Knoten geschlungen. Sie trug weder Make-up noch Mascara, aber ihre Brauen und Wimpern waren so dicht und ihre Haut so zart
und rosig, dass das auch nicht nötig war.
»Hey, Marie, freut mich, dass du auch dabei bist.«
Cheyenne zupfte wieder an Evas Pullover und sagte: »Bitte«. Eva griff in ihre Tasche, zog ein Bonbon hervor und reichte es
dem Mädchen, ohne Marie aus den Augen zu lassen. So, als versuchte sie, Marie irgendwie einzuordnen. War sie etwa auch auf
der Trauerfeier?, schoss esMarie durch den Kopf. Vielleicht erinnert sie sich an mich! Marie bemühte sich, entspannt auszusehen, sie lächelte Stella
und die kleine Cheyenne an. Auf einmal verschwand der verhaltene Ausdruck in Evas Blick, und sie erwiderte Maries Lächeln.
Marie wurde ganz heiß vor Erleichterung. Doch gleich darauf tauchte wieder eine Stimme in ihr auf, ihr schlechtes Gewissen.
Sie drang hier unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein und heuchelte ein Interesse, das sie gar nicht besaß.
»Und du machst jetzt deinen ersten Sprung?«, fragte Eva.
»Na ja, ich probier’s …« Marie versuchte zu lächeln.
»Bist du schon mal gesprungen?«
»Einen Tandem-Sprung habe ich hinter mir.« Der Schneeball, aus dem eine Lawine wird, dachte Marie und fragte sich, bei welchen
Lügen sie am Ende dieses Kurses angelangt sein würde.
»Gut. Wenn dich das nicht abgeschreckt hat, dann ist’s was für dich. Lass dich übrigens von den Jungs nicht irritieren. Wir
sind hier manchmal ein rauhes Völkchen.«
»Ach ja?«, fragte Marie verunsichert, die sich unter einem
rauhen Völkchen
nichts anderes als Grobiane und Säufer vorstellte. Proleten. Ihr Blick glitt über eine Pinnwand, auf der ein paar Ansichtskarten
hingen. Auf einer war eine barbusige Frau zu sehen, die eine Eiswaffel zwischen ihre Brüste geklemmt hatte und daran leckte.
Stella folgte Maries Blick und lächelte entschuldigend: »Ich hab die nicht aufgehängt.« Sie blinzelte Marie zu. »Aber sonst
sind sie gar nicht so … Würd mal sagen, hart, aber herzlich wäre das passende Motto.«
Marie lachte. Künstlich, wie sie fand. Eigentlich ist mir gar nicht zum Lachen zumute, dachte sie und sah sich um. Hier und
da waren Springer mit dem Packen ihrer Schirme beschäftigt, Ron, der Lockenengel, machte sich am Flugzeugzu schaffen, eine Gruppe von drei Leuten stand vor einem Bildschirm, auf dem Springer in der Luft zu sehen waren, die sich
an den Händen fassten und einen Stern bildeten.
»Die springen am Sonntag Formation«, erklärte Stella.
Marie nickte. Plötzlich hatte sie richtig Angst.
Eva hatte sich wieder ihrem Schirm zugewandt und Stella verschwand mit einem »Bin gleich wieder da« in einer Art Büro, das
von der Halle abgetrennt war.
Maries Blick wanderte zurück zu den Formationsspringern vor dem Videobildschirm, die sich angeregt gestikulierend unterhielten.
Maries Unbehagen wuchs zunehmend. Sie schluckte, und ihr Mund fühlte sich trocken an. Eine Stimme in ihr meldete sich zu Wort
und raunte: Geh nach Hause, stell dich an deine Staffelei, male, beschäftige dich mit den Kleinen, verdammt nochmal, und lass
diese Verrückten hier allein aus Flugzeugen springen. Was glaubst du, wer du bist, eine schwäbische Miss Marple? Und was glaubst
du denn herausfinden zu können, was die Polizei nicht hat in Erfahrung bringen können? Aber dann tauchte ein anderes, ein
unangenehmeres Bild vor ihr auf.
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