Novemberasche
Paula von hinten, in einen Korbsessel gekauert, das Haar am Hinterkopf plattgedrückt, ihr
Kopf so klein, die Schultern so schmal. Aber das Schlimmste war, dass sie sich nicht regte, dass sie ganz still dasaß, den
Blick geradeaus ins Leere gerichtet. Verdammt nochmal, dachte Marie und richtete sich auf, sie stand ganz gerade. Du bist
nicht zum Vergnügen hier. Das Einzige, was zählt, ist dein Ziel. Wenn du beweisen kannst, dass es kein zweites Leben gegeben
hat, wenn du beweisen kannst, dass es nur Paula für ihn gegeben hat … Aber konnte man so etwas überhaupt
beweisen
?
Sie linste hinüber zu dem Bürokasten, in dem Stella verschwunden war, und sah sie mit einer anderen Frau sprechen, einer mageren
Blondierten mit eckiger Brille.
Sie musste ihre Zurückhaltung überwinden und endlich in die Offensive gehen, natürlich geschickt, aber sie durfte keine Zeit
mehr verlieren. Immerhin gab es auch noch die Möglichkeit, mit ihrer Befragung bei den anderen anzufangen, vielleicht bei
Jojo und Ron. Mal sehen, was die zu sagen hatten. Niemand hatte jedenfalls auch nur angedeutet, dass es hier vor kurzem einen
Sprung mit tödlichem Ausgang gegeben hatte.
*
Walsers Alibi für den Freitagabend entpuppte sich tatsächlich als wasserdicht. Und der Anruf beim Tennisclub Langenargen bestätigte,
dass Walser am zehnten November wie angegeben sein Training absolviert hatte. Die Nachfrage bei Jan Bentele, ob die beiden
an dem Abend wie gewöhnlich auf ein Glas in ihrer Stammkneipe, dem
Bach
, eingekehrt waren, ergab jedoch, dass die Verabredung nicht stattgefunden hatte, da Walser das Treffen kurzfristig abgesagt
hatte. Den Grund dafür konnte Bentele nicht mit Sicherheit nennen, meinte aber sich zu erinnern, dass Walser die längst überfällige
Korrektur von Klassenarbeiten angegeben hatte.
Der Kollege von der Bregenzer Gendarmerie – ein Beamter mit dem saftigen Namen Heinz Fleisch –, den Sommerkorn bereits von früher her kannte und bei dem sie im Fall Leander Martìn um Amtshilfe ersucht hatten, erwartete
sie bereits vor dem Hotel. Heinz Fleisch, ein behäbiger und gutmütiger Mann in den Vierzigern, nickte Barbara und Sommerkorn
zu und betrat vor den beiden den
Rosenhof
, der etwas außerhalb, an der Straße nach Deutschland, lag. Sowohl das Hotel als auch das Viertel hatten vermutlich schon
bessere Zeiten gesehen. HeinzFleisch hielt Barbara die Glastür auf und steuerte direkt auf die Rezeption zu, die nicht besetzt war. An der Wand hinter
dem Tresen hingen Plakate der Bregenzer Festspiele, manche von ihnen verblasst mit aufgerollten Ecken. In einem Ständer rechts
an der Wand warben Prospekte für die Pfänderbahn, die Sommerrodelbahn im Bregenzer Wald, die Karrenseilbahn und allerlei andere
interessante Ausflugsziele. Ob das Klientel dieses Hotels sich für all das interessiert, sei dahingestellt, dachte Sommerkorn.
Außerdem passte dieser Ort nicht zu dem gepflegten Walser im rosa Lacoste-Shirt.
Sie warteten eine Minute, sahen sich etwas verstohlen um, bis es Heinz Fleisch zu dumm wurde und er eine altmodische Messingglocke,
die auf dem Tresen stand, betätigte. Ein heller Klang hallte in dem halbdunklen Raum wider und stand in vornehmem Gegensatz
zu der muffigen Umgebung. Zwei Sekunden später tat sich eine Tür auf und ein etwa dreißigjähriger Mann in Hemd und – was die
drei Kriminalbeamten überraschte – Krawatte und Weste erschien mit einer großen Tasse in der Hand. Die Tasse war schwarz und
trug die Aufschrift ›Gothic Family‹, und ein zweiter Blick zeigte, dass Hemd und Weste im selben gruftigen Stil wie die Tasse
gehalten waren. Unauffällig zwar, dennoch eigenartig.
»Bitt schön, die Herrschaften.« Der junge Mann hatte ein glattes, ausdrucksloses Gesicht, auf dem ein desinteressierter, ja
fast apathischer Blick lag.
»Landespolizei Vorarlberg.« Heinz Fleisch hielt dem Mann seinen Ausweis hin. »Diese beiden Kollegen aus Deutschland ermitteln
in einer Sache, bei der sich einige Fragen ergeben haben, die Sie eventuell beantworten können.«
Der Mann hinter dem Tresen antwortete mit einem Wiener Akzent: »Ich mache hier nur die Nachtschicht.« Er sprach langsam und
dehnte die Vokale.
»Es geht um einen Gast, der hier am zehnten November ein Zimmer gebucht haben soll, Manfred Walser. Können Sie bitte mal nachschauen?«
Der Mann tippte auf der Tastatur, das Radio im Hintergrund plärrte ›Reif für die Insel‹.
»Am
Weitere Kostenlose Bücher