Novemberasche
Verschwindens getragen hatte. Natürlich gab es immer noch eine geringeChance, dass der Junge einfach – aus welchem Grund auch immer – abgetaucht war und vielleicht, ehe man sich’s versah, wieder
erscheinen würde. Wenngleich Sommerkorn nicht daran glaubte. Noch im Krankenhaus hatte er Frau Wölfle den aufgezeichneten
Anruf auf seiner Mobilbox vorgespielt, und sie war sofort sicher gewesen, dass die Stimme des Jungen, der Sommerkorn um eine
Unterredung gebeten hatte, die ihres Sohnes war.
Walser wohnte, wie sie im Sekretariat des Gymnasiums erfahren hatten, mit Frau und Tochter in einem Einfamilienhaus in Kressbronn.
Barbara, die am Steuer des Dienstwagens saß, nervös aufs Lenkrad trommelte und sich zum wiederholten Mal in eine Gegend wünschte,
in der die Straßen frei waren, merkte nicht, dass Sommerkorn einen verkrampften Gesichtsausdruck hatte, als sie ausscherte,
in den dritten Gang zurückschaltete und mit röhrendem Motor an einem LKW vorbeizog.
»Wir müssen doch sowieso gleich abbiegen.« Sommerkorns Einwand klang zögerlich, er wusste, dass Barbara Bemerkungen zu ihrem
Fahrstil nicht sonderlich schätzte. Er nahm sich vor, später einen Vorwand hervorzukramen, der es ihm ermöglichte, auf der
Rückfahrt den Platz hinter dem Steuer einzunehmen.
»Was ist los?«, fragte Barbara, überholte einen letzten LKW und schaffte es gerade noch, die Abfahrt nach Kressbronn zu nehmen.
Am Kreisverkehr mit den Kressbronner Landmusikanten – wie Sommerkorn sie bei sich nannte –, die wohl in Anlehnung an die städtischen Bremer Vorbilder geschaffen worden waren, nahm sie die erste Ausfahrt, und beim
nächsten Kreisverkehr, dem mit dem Kretzerhetzer, einem Boot, umgeben von Schilf, fuhr sie so schneidig in die Kurve, dass
Sommerkorn fest gegen die Tür gepresst wurde.
Vielleicht hat sie Ärger mit Thomas, dem Aalglatten,dachte Sommerkorn und schluckte ein paar Verwünschungen an den geschniegelten Jungingenieur hinunter. Sommerkorns Meinung
nach war diese Beziehung ohnehin dem Untergang geweiht.
»Du weißt schon, dass die Bußgelder auch nicht mehr das sind, was sie mal waren«, unternahm Sommerkorn einen lahmen Versuch,
als Barbara am
Lidl
scharf herunterbremste und nach rechts abbog.
»So. Hier muss es irgendwo sein«, sagte sie, ohne auf die Bemerkung ihres Vorgesetzten einzugehen.
Das Wohngebiet, das am Ortsrand von Kressbronn in den letzten Jahren entstanden war, bestand zum Großteil aus Doppelhaushälften
oder Einfamilienhäusern im Stil der Zeit, wie Sommerkorn die Häuser auf ihren handtuchgroßen Grundstücken nannte. Man konnte
um das eigene, frei stehende
Anwesen
herumgehen, was den Eigentümern hier besonders wichtig zu sein schien. Vorausgesetzt natürlich, man presste die Arme eng an
den Körper.
Auch Walsers Haus war ein solches Exemplar. Bevor sie ausstiegen, betrachteten sie das Gebäude einen Moment lang im Schein
der Straßenlaterne. Es unterschied sich durch nichts von den anderen Häusern der Siedlung. Auch dieses Grundstück war klein,
das Haus wenn nicht neu, so doch neuwertig, akkurat. Langweilig, dachte Sommerkorn. Grauenhaft. Nie wieder wollte er so leben,
eingekerkert in diese quadratische Enge. Er wusste, was sich hinter diesen säuberlichen Fassaden, den Kaffeehausgardinen,
den Kränzen an den Haustüren verbergen konnte – oder verbarg.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte auch er in einem Neubaugebiet gewohnt. Bis es zuerst mit Arlene und dann mit ihrer Ehe immer
weiter bergab gegangen war, bis sich alles aufgelöst hatte. Und nun, im Nachhinein, mit dem Abstand von einigen Jahren, konnte
er es Arlene gar nichtmehr verdenken, dass sie sich dort nie wohlgefühlt hatte. Er selbst hatte es ja auch nicht getan. Eigentlich hatte sich seine
Ehe auch nicht aufgelöst, ach was, das war ein viel zu sanftes Wort für das, was geschehen war: Ihre Beziehung zerbarst, viele
Male, in vielen hässlichen Explosionen zerbarst ihr Leben, ihre Dreisamkeit. Unerträglich hatte er die mitfühlenden Worte,
echt oder unecht, derer gefunden, die in dieser Enge, dieser Unmittelbarkeit alles mit angesehen hatten. Die Zaungäste, die
sich, ganz ehrlich gesprochen, nicht sehr hatten anstrengen müssen, das private Familiendrama der Sommerkorns mit anzusehen.
Die Enge in diesem Haus war so groß gewesen, der räumliche Abstand zu den Nachbarn so gering, dass sie ihnen buchstäblich
in den Suppentopf hatten schauen können. Nein – Sommerkorn
Weitere Kostenlose Bücher