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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Nacht machte sich bemerkbar. Er setzte seine Brille ab und rieb sich die Augen, streckte sich, stand auf und
     tat ein paar Schritte. Allen guten Vorsätzen für eine gesundheitsbewusste Lebensführung zum Trotz, kochte er einen großen
     Becher starken Kaffee, um doch noch einen halbwegs brauchbaren Gedanken zustande zu bringen. Während er den Wasserkocher unter
     den Hahn hielt, fiel ihm ein, dass er heute Abend Marie sehen würde, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
    Mit dem frischen Kaffee in der Hand wagte sich Sommerkorn noch einmal an den Fall. Eines Abends nimmt Leander Martìn den Wagen
     seiner Eltern und fährt weg. Der Junge wird mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt, jemand wickelt ihm Stacheldraht um die
     Handgelenke, erstickt ihn. Er geht das beträchtliche Risiko ein, den Jungen auf den Friedhof zu locken, ihn dort zu töten
     und zu inszenieren. Wenn Walser tatsächlich der Täter ist, warum hätte er sich dieser Gefahr aussetzen sollen? Sommerkorn
     erhob sich. Der Ort. Das Motiv musste mit dem Ort zusammenhängen. Mit einem Mal fühlte er sich wieder wach, um nicht zu sagen,
     überwach. Er schnappte sich seinen Mantel und holte den Fotoapparat aus der Schreibtischschublade. Ja, dachte er, so muss
     es sein. Der Ort. Er spielt eine sehr viel größere Rolle, als wir bisher gedacht haben. Wenn wir die Symbolik des Ortes verstehen,
     dann verstehen wir auch das Motiv.
     
    Es hatte bereits zu dämmern begonnen, als Sommerkorn durch die Grabreihen streifte. Der Friedhof lag in spätherbstlicher Vergessenheit
     da, und Sommerkorn war der einzige Besucher, der sich an diesem regnerischen Dezembernachmittag aufgemacht hatte, den Toten
     Gesellschaft zu leisten. Als er das Grab, das er suchte, schließlich erreicht hatte, blieb er stehen und lauschte. Die Stille
     dieses Ortes, mitten in der Stadt, war fast mit den Händen greifbar. Hier gab es nur die Grabsteine, die Eiben und den Regen,
     dachte Sommerkorn. Im Gegensatz zu Arlene hatte er Friedhöfe immer gemocht. Er mochte den endgültigen Frieden, der diesen
     Orten innewohnte und der durch – fast – nichts zu erschüttern war. Warum hatte jemand versucht, diesen Frieden zu stören?
     Sommerkorn hatte das schier übermächtige Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein. Der Ort. Ja, auf einmal glaubte er zu wissen,
     dass der Ort in untrennbarer Weise mit dem Motiv verknüpft war. Sein Blick glitt über den grauen Stein, die Buchsbaumhecken,
     die Gestecke. Hier hatte er gesessen, der schöne Junge, der disziplinierte Schüler, der so mustergültig nicht gewesen war.
     Hatte Leander seine Mitschüler drangsaliert? War er es, der die Website des Salemer Internats mit rechtsradikalem Gedankengut
     manipuliert hatte? Stimmten die Vorwürfe des schwarzen Jungen, Liam? Hatte Leander ihn über Bord geworfen? Und Viktoria, was
     war dran an ihren Behauptungen?
    Langsam ließ Sommerkorn den Blick schweifen. Vom Grab vor sich über das Nachbargrab, über die Gräber auf der anderen Seite.
     Er zog die Kamera aus der Manteltasche, stellte sich ein paar Meter vor das Grab und fotografierte von dort aus alles, was
     er mit einer 360°-Drehung erblicken konnte.
    Eine halbe Stunde später kehrte er mit nassen Haaren und feuchtem Wollmantel ins Büro zurück. Von Unruhegetrieben tätigte er als Erstes einen Anruf beim LKA, nur um zu erfahren, dass das Ergebnis der DN A-Analyse nun doch erst am nächsten Tag vorläge. Dann spielte er die Fotos auf seine Festplatte und klickte sich durch die Bilder.
     In diesem von einer Hecke umgebenen Abschnitt des Friedhofs befanden sich einander gegenüberliegend zwei mal fünf Gräber.
     Bei den Toten, die dort zur Ruhe gebettet worden waren, handelte es sich um fünf alte Frauen, die jüngste von ihnen war sechsundsiebzig
     Jahre alt geworden, die älteste war im achtundneunzigsten Lebensjahr gestorben. Auf zweien der Gräber war kein Datum verzeichnet.
     Auf den restlichen drei Grabsteinen waren Männernamen zu sehen. Einer der Männer war in den Dreißigern verstorben, die beiden
     anderen in den Siebzigern. Sommerkorn schaute sich noch einmal alle Grabinschriften an und verweilte kurz bei den Namen, die
     ihm allesamt nichts sagten. Er wurde das Gefühl nicht los, irgendetwas Wesentliches zu übersehen.
     
    ☺
     
    Sie lassen mich in Ruhe, Gott sei Dank!!! Heute war mein erster Tag in der Schule nach der Sache mit dem Penner. Sie haben
     gar nicht mit mir geredet. Das ist das Beste, was mir passieren kann. Und

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