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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Geräusch, aber diesmal kam es von unten. Schritte,
     gezischelte Worte, die sie nicht verstand. Eilig lief sie aus dem Haus, zu Evas kleinem Wagen, holte das Fläschchen mit den
     Arnica-Globuli aus dem Handschuhfach und lief, so schnell und leise sie konnte, nach oben in Evas Wohnung zurück.
    »Ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken.«
    »Entschuldige, ich habe draußen einen Bekannten getroffen.«
    »Ach ja?«
    »Ja   …«
    »Jemand, der hier im Haus wohnt?«
    »Nein, nein. War nur zu Besuch im Nachbarhaus.«
    »Ach so.«
    Ja, dachte Marie und trat ans Fenster, das zur Hofeinfahrt ging. Und ich bekomme einen Preis als beste Lügnerin des Jahres.
    »Magst du mir mal die Butter aus dem Kühlschrank geben?«
    »Klar«, antwortete Marie und sah, gerade als sie sich abwandte, den Mann aus dem Haus kommen und auf den schwarzen Jeep zusteuern.
     Es war Ron, der Pilot.
     
    ☺
     
    Was ist es, was träumst du jede Nacht? Junge, sprich mit mir. Was quält dich? Ich will mich ablenken, will lernen. Und manchmal
     schaffe ich es auch, und einzelne Sachen lenken mich ab. Nur Mathe, ich kann nicht mehr denken. Immer wieder sehe ich diese
     Augen. Lernen, nicht denken, nicht denken.
     
    *
     
    Nicht zum ersten Mal dachte Sommerkorn, dass auf den Fotos eines Radargeräts selbst der harmloseste Zeitgenosse den Eindruck
     eines flüchtigen Bankräubers vermittelte.
    In dieser Nacht hatte er schlecht geschlafen. Die meiste Zeit hatte er wach gelegen und dem Regen gelauscht, der unaufhörlich
     an sein Fenster klopfte. Immer wieder war er in kurze Schlafphasen gesunken, in denen er Leanders bleiches Gesicht, die Wundmale
     an seinen Handgelenken und die in grelles Scheinwerferlicht getauchten Grabsteine sah. Und jedes Mal wachte er mit dem Gefühl
     auf, einen Gedanken festhalten zu wollen, was ihm jedoch nie gelang. Erst gegen Morgen sank er in einen bleiernenSchlaf, aus dem der Wecker ihn zu bald schon wieder herausriss. Um halb acht weckte er die Mädchen, kochte auf ihren Wunsch
     hin Haferbrei mit Zimt und Sahne und fuhr sie zum Kindergarten. Auf dem Weg zur Verkehrspolizei versuchte er, sich an die
     Szenerie in seinen Träumen zu erinnern, doch die Traumbilder waren verschwommen und zurück blieb nur ein vages Gefühl, dass
     es da etwas gab, das hinter diesen Träumen verborgen lag.
    Nun saß er im Besprechungszimmer gleich neben Josef Hochbergers Büro und sichtete die Fotos der beiden Radargeräte, die am
     Abend des zwanzigsten November auf der Strecke zwischen dem Betriebsparkplatz und dem Friedhof gemacht worden waren. Nach
     einer halben Stunde legte er die Papiere beiseite. Er war müde und enttäuscht. Dieser Gedanke hatte ihn jedenfalls nicht weitergebracht.
     Zurück blieb wieder nur dieses vage Gefühl, dass irgendetwas nicht passte.
    Als er wenig später die Diensträume der Verkehrspolizei verließ, war er erleichtert und irritiert zugleich. Er hatte nichts
     herausfinden können, was Walsers Schuld in Frage stellte. Ein Anruf bei Martin Inkat ergab, dass Walser immer noch nicht gestanden
     hatte. Und von Matthias Wölfle gab es noch immer kein Lebenszeichen.
    Sommerkorn fuhr nach Hause, zog sich seine Laufsachen an und drehte eine Runde im Wald. Als er aus der Dusche kam, war es
     halb elf. Er hatte noch zwei Stunden Zeit, bis er Leni und Anna vom Kindergarten abholen musste. Bis dahin wollte er noch
     einmal – ein letztes Mal – gründlich über alles nachdenken. Er kochte sich eine Kanne Kaffee, setzte sich an den Küchentisch,
     nahm Block und Stift und begann alles zu notieren, was im Entferntesten mit Leander Martìn, Matthias Wölfle und Walser zu
     tun hatte.
    Eine Stunde später saß er mit zehn vollgeschriebenen Seiten da und hatte so gut wie keine neue Erkenntnis hinzugewonnen. Vielmehr
     kehrten seine Gedanken immer wieder zu einem Punkt zurück: dem Fundort der Leiche. Warum hätte Walser sich die Mühe machen
     sollen? Es war diese Frage, die ihm plötzlich so wichtig erschien, dass sie alles andere verdrängte. Diese Inszenierung ist
     der Kernpunkt, um den sich alles dreht, ging es ihm durch den Kopf. Das ist weder die Handlung ei-nes Mannes, der seine homoerotischen
     Phantasien auslebt, noch die einer Person, die erpresst wird. Diese Inszenierung deutet auf ein zutiefst persönliches Motiv
     hin. Da sollte nicht einfach ein Mensch ausgeschaltet werden. Die Welt sollte diese Inszenierung sehen. Dieses Arrangement
     war eine Botschaft, wurde Sommerkorn in diesem Moment bewusst. Doch

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