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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gegangen.«
    Stella sah über Maries Schulter hinweg ins Leere und ihr Kinn begann erneut zu zucken.
    »Bestimmt renkt sich alles wieder ein«, sagte Marie rasch. »Ich kenne Jojo ja nicht gut, aber er kommt mir sehr impulsiv vor.
     Und impulsive Leute sagen oft Dinge, die ihnen hinterher leidtun.«
    Stella seufzte. »Wenn es so einfach wäre   …«
    »So lapidar es klingen mag: Manche Dinge brauchen einfach Zeit.« Marie, die Expertin in Beziehungsfragen. Sie kam sich verlogen
     und hinterhältig vor, als sie hinzufügte: »Manchmal hilft es, sich bei einer Tasse Tee alles von der Seele zu reden. Und noch
     besser hilft es, wenn der Gesprächspartner ein neutraler Dritter ist.« Wenn das mal nicht zu dick aufgetragen war, dachte
     Marie.
    »Vielleicht hast du ja recht. Möchtest du denn einen Tee?«
    Im Gegensatz zu Evas Küche war Stellas wesentlich knapper bestückt. Statt ostfriesischen Sonntagstee, Glaskanne und Stövchen
     gab es hier nur eine ziemlich ramponiert wirkende, ehemals weiße Thermoskanne und Beuteltee, die Billigmarke. Überhaupt wirkte
     Stellas Küche provisorisch – als bliebe hier die meiste Zeit die Küche kalt. Dieser Eindruck verfestigte sich, als Marie im
     Kühlschrank Sahne oder Milch für den Tee suchte und nur ein paar Fertiggerichte für die Mikrowelle entdeckte.
    »Moment, ich glaub, ich hab noch eine Tüte H-Milch irgendwo im Schrank«, sagte Stella und lächelte entschuldigend.
    Müsste nicht diese Küche hier Eva als Single bewohnen und Stella, die ja außer sich selbst noch ein Kind zu versorgen hatte,
     Evas großzügige, gut ausgestattete Küche bewirtschaften? Aber so ist es halt im Leben, dachte Marie, als sie die Kanne auf
     dem Wohnzimmertisch platzierte. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Ich lebe mit zwei kleinen Mädchen, die
     nicht meine sind, und ab und zu kommt ein Mann vorbei, der nicht der Vater, sondern der Onkel der Kleinen ist. Und ihre Mutter
     kommt nicht mehr zurecht und sitzt in einer psychiatrischen Anstalt.
    Sie setzte sich Stella gegenüber in einen Sessel. Neugierig sah sie sich im Raum um. Ein Sofa, über das ein Webteppich ausgebreitet
     war, ein paar Kelimkissen und an den Wänden riesige bunte Drucke mit naiven Tiermotiven. Ein buntes und exotisch anmutendes
     Zimmer, ein völlig unkonventioneller Mix aus allem Möglichen, das aber ein harmonisches Ganzes ergab. Stella schenkte Tee
     ein und stellte die Kanne etwas zu laut auf dem runden Tischchen vor ihnen ab.
    »Es tut mir leid, dass es für dich nicht so gut läuft gerade«, fing Marie vorsichtig an.
    Stella hob den Kopf und sah Marie direkt und mit großen Augen an.
    »Ja«, sagte sie leise. »Es läuft in der Tat nicht besonders gut für mich.«
    »Du und Jojo, ihr seid   … zusammen?«
    Als Antwort lachte Stella, aber es klang bitter.
    »Weißt du, wie das ist, wenn man eines Tages merkt, dass man alles verbockt hat? Aus Dummheit oder Naivität oder aus welchem
     gottverdammten Grund auch immer!«
    Marie rührte Zucker in den Tee – eine dunkle, unappetitliche Brühe mit etwas Schaum an der Oberfläche. Typischer Kaffeetrinker-Tee,
     schoss es Marie durch den Kopf. Dann kippte sie Milch dazu und betrachtete das Ergebnis,das jetzt nicht nur unappetitlich, sondern noch dazu krank aussah. Erinnert mich an die Farbe eines alten Pflasters, dachte
     sie. Sie räusperte sich.
    »Ja, dieses Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, habe ich eigentlich für mich gepachtet.«
    Stella hob den Blick und lachte ungläubig. Sie schien amüsiert. »So?«
    »Ja, aber jetzt erzähl erst mal du. Mein Elend hat auch noch Zeit bis später.« Marie lächelte aufmunternd.
    »Es ist eine recht verworrene Geschichte. Oder vielleicht auch nicht.« Stella hielt inne und schien nachzugrübeln. »Vor ein
     paar Jahren, als ich mit dem Springen anfing, habe ich einen Mann kennengelernt«, fuhr sie fort.
    Marie spürte, wie ihr Herz auf einmal schneller schlug, wie ihre Finger sich um die Tasse krampften. Endlich, schoss es ihr
     durch den Kopf. Und ich muss nie wieder so tun, als würde es mir Spaß machen, aus einem Flugzeug zu springen.
    »Einer von den Springern?«
    »Ja. Er hieß Erik.«
    Marie schluckte. »Erik«, wiederholte sie. Ihr Mund fühlte sich trocken an. »Aber warum
hieß
? Was ist mit ihm?«
    »Er   … ist tot. Beim Springen verunglückt.«
    »Das ist ja entsetzlich. Das   … ich   …« Meine Güte, bin ich nicht in der Lage, einen korrekten Satz zu formulieren. Marie nahm einen

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