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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Sprache. Aber warum um alles in der
     Welt sollte Walser sich die Mühe gemacht haben, Leander gegen einen Grabstein zu lehnen wie ein Kunstwerk? Es gab nur zwei
     Möglichkeiten: Entweder Walser war doch nicht der Täter – oder es gab da etwas ganz Entscheidendes, das sie nicht wussten.
     
    Sommerkorn nahm sich fest vor, für den Rest des Tages nicht weiter über den Fall nachzugrübeln. Stattdessen dachte er immer
     wieder an Marie und den gestrigen Abend. Oder vielmehr an das Ende des gestrigen Abends.Durch die Dunkelheit waren sie auf einer ungewöhnlich leeren B31 zurückgefahren, und er hatte versucht, ein Gespräch in Gang
     zu bringen, aber aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, war er gescheitert. Marie war einsilbig gewesen, und, ja, man
     konnte es nicht anders nennen, abweisend. Als er sich vor Maries Haus von ihr verabschiedet und sie nach einem Abendessen
     beim Chinesen in der Riedleparkstraße gefragt hatte, hatte sie nur den Kopf geschüttelt und halblaut »schlecht zur Zeit« gesagt.
    Zum Mittagessen kochte er Miracoli-Spaghetti für sich und die Kinder, spielte Verstecken, malte Pilze und Blumen vor, die
     Leni ausmalte, und fuhr dann mit den Kindern nach Lindau zu einer Vorstellung des Marionettentheaters. Als das Licht ausging
     und die Puppen zu tanzen anfingen, wanderten Sommerkorns Gedanken – trotz der zuvor gefassten guten Vorsätze – doch wieder
     zu Leander Martìn. Wohl zum hundertsten Mal dachte er über den Ablauf des Tatabends nach.
    Leander fährt zum
ZF
-Betriebsparkplatz, lässt den Wagen stehen, steigt in Walsers Auto ein. Sie fahren zum Friedhof. Weder auf dem Weg noch an
     Leanders Bekleidung konnten Schleifspuren entdeckt werden, also musste Leander gelebt haben, als sie auf dem Friedhof angekommen
     waren. Aber warum trifft Leander sich mit Walser auf diesem Parkplatz? Da gibt es doch nur eine Möglichkeit: Leander wollte
     seinen Lehrer erpressen – oder ihn mit der
Rosenhof
-Geschichte zumindest unter Druck setzen. Aber weshalb? Leanders Noten waren tadellos in allen Fächern. Und wenn Leander seinen
     Lehrer tatsächlich erpresst hatte, dann hätte der sich doch nicht die Mühe gemacht, Leander auf einem Grab auszurichten. Oder
     war es gar andersherum gewesen: Hatte Walser etwas über Leander herausgefunden, vielleicht die Sache mit den Brandanschlägen?Und es war zu einem Streit zwischen den beiden gekommen, dem Leander zum Opfer gefallen war? Wie er es auch drehte und wendete,
     es gab da immer ein Teil, das nicht zu den anderen passte. Schließlich war da noch dieses diffuse Gefühl, irgendetwas übersehen
     zu haben.
    »Rufen!« Leni zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus seinen Überlegungen. Nun begann auch er, in den Chor der Stimmen um ihn
     einzufallen, die die Fragen der Marionetten abwechselnd mit »Ja« und mit »Nein« beantworteten.
    Erst als er auf der Rückfahrt kurz hinter der Ortseinfahrt Friedrichshafen mit knapp achtzig Stundenkilometern geblitzt wurde,
     fiel ihm ein, was er die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte – seit dem Abend, an dem Matthias Wölfle ihn an den Yachthafen
     bestellt hatte.
     
    ☺
     
    Die Träume, immer wieder dieselben Träume, meine Nächte sind meist gegen drei zu Ende. Und in der Schule bin ich nun immer
     müde. Es sind die Augen des Mannes, die ich sehe, sein armes, zerschundenes Gesicht. Seinen fassungslosen Ausdruck. Er war
     doch sowieso schon ganz unten. Manchmal habe ich das Gefühl, verrückt zu werden. Einzig das Schreiben lenkt mich ein wenig
     ab. Aber auf Mathe kann ich mich nicht mehr richtig konzentrieren, auch nicht auf Physik. Ich fühle mich so schwach. Und natürlich
     merkt der Walser das. Es ist ihm ein Vergnügen. MICH FERTIGZUMACHEN.
     
    *
     
    Von Evas Wohnzimmerfenster aus sah Marie auf das chinesische Restaurant, in das Sommerkorn sie hatte einladen wollen. Sie
     schluckte. Nein, sie war nicht bereit, über eine Sache nachzugrübeln, die keine Zukunft hatte.Und sie war auch nicht mehr bereit, den Spielregeln anderer zu folgen.
    Den ganzen Vormittag hatte sie in Leutkirch auf dem Sprungplatz verbracht, ein paar Trockenübungen und einen Sprung absolviert,
     bei dem sie ein paar Sekunden zu früh geflaret und sich deshalb beim Aufkommen am Boden zweimal überschlagen hatte. Wie schon
     am Tag zuvor war sie mit Eva nach Leutkirch gefahren, die sie dann auch wieder mit zurück nach Friedrichshafen genommen hatte.
     Da ihr der Schreck – und die Erleichterung darüber, dass sie außer

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