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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ein paar blauen Flecken nichts abbekommen hatte – noch
     in den Gliedern saß, hatte sie diesmal nicht versucht, während der Autofahrt Informationen über Stella zu erlangen. Stattdessen
     machten sich massive Zweifel darüber breit, ob ihr Plan überhaupt die geringste Aussicht auf Erfolg hatte. Eva hatte ihre
     Grübeleien unterbrochen und sie überraschenderweise zum Tee zu sich nach Hause eingeladen.
    Marie hörte die Zimmertür und drehte sich um. Eva kam herein und balancierte ein Tablett vor sich her. Rasch sammelte Marie
     die Zeitungsseiten zusammen, die über den Tisch verteilt lagen, und legte sie beiseite.
    »Das wird dir guttun«, sagte Eva, stellte Teller und Tassen auf den Tisch, zündete das Teelicht im Stövchen an und platzierte
     die Glaskanne darauf. Sie reichte Marie ein Stück Apfelkuchen.
    »Ich erinnere mich an meinen ersten Alleinsprung, als wenn’s gestern gewesen wäre. Aber nimm doch Platz.«
    Marie setzte sich. Sie war erschöpft, aber auch erleichtert und dankbar, ja, vor allem war sie dankbar dafür, dass sie noch
     lebte. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie noch in der Lage sein würde, dieses Theater weiter zu spielen: Marie Glücklich,
     die Fallschirmspringerbraut, eine Heldin der Lüfte, die keine Angst kannte.
    »Auch ich hab damals – genau wie du – zu früh geflaret. Aber ich hatte nicht so viel Glück wie du.« Eva griff nach der Teekanne
     und hielt einen Moment lang inne.
    »Ich hab mir damals ziemlich übel den Knöchel verstaucht.«
    »Und du hast trotzdem weitergemacht?«, fragte Marie, der ihr harter Aufprall noch in den Knochen saß.
    Eva schenkte Maries Tasse voll. »Aber ja! Ich musste! Das war wie ein Zwang. Zuerst dachte ich natürlich auch – das war’s,
     lass die Finger davon, das ist nichts für dich. Aber nach ein, zwei Wochen wurde ich nervös. Da bin ich einfach wieder hingefahren
     und gesprungen. Und damit war der Knoten geplatzt.«
    Marie beobachtete Evas offenes Gesicht, ihre feinen Züge, den zarten Mund, die Augen, die trotz der Lachfältchen so traurig
     wirkten. Sie betrachtete Eva wie eine Fotografie und fragte sich das erste Mal, was es eigentlich für ein Leben war, das Eva
     führte. Hier, in dieser Wohnung, mit diesem extremen Hobby, das ihr alles zu sein schien. Im Grunde kenne ich sie gar nicht,
     dachte Marie. Ich weiß nichts über sie, so konzentriert bin ich auf Stella und Erik. Vielleicht wird es Zeit, sich auf etwas
     anderes auszurichten, die Toten ruhen zu lassen und aufzuhören, die Frage von Schuld oder Unschuld zu stellen.
    »Der Schreck scheint dir jedenfalls noch ziemlich in den Gliedern zu stecken.« Eva hielt ihr Zucker und Sahne hin, und Marie
     tat von beidem reichlich in ihren Tee, der nun die Farbe von Karamell annahm. Sie rührte gründlich um und nahm einen Schluck.
    »Das tut gut.« Sie fühlte, wie die Hitze des Tees sich in ihr ausbreitete und das Koffein bald seine belebende Wirkung entfaltete.
     Ja, dachte sie, ich sollte mich wirklich wieder auf anderes konzentrieren, auf mein eigenes Leben, auf die Menschen um mich.
     Ihr Blick wanderte zu Eva, dieschweigend kaute und ihr dabei aufmunternd zuzwinkerte. Marie griff nach ihrer Gabel und nahm einen Bissen Apfelkuchen.
    »Hmmm, der schmeckt ja wie bei Muttern! Das Rezept musst du mir geben.« Sie nickte anerkennend.
    Eva reagierte nicht. Sie aß weiter konzentriert ihren Kuchen, Happen für Happen. Irgendetwas ist anders, dachte Marie und
     sah noch einmal zu Eva. Ein Schatten hatte sich über ihr Gesicht gelegt, und ihr Blick hatte plötzlich etwas Starres. Marie
     wurde unsicher. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Aber was? Ich werde immer komplizierter, dachte sie, das ist nun das Ergebnis
     meiner Recherche. Hinter allem vermute ich etwas. Es wird wirklich Zeit, wieder in mein Leben zurückzukehren.
     
    *
     
    Er hielt an der Bushaltestelle gleich hinter dem Ortsschild. Ja, das war es. Das hatten sie versäumt. Er blieb etwa dreißig
     Sekunden dort stehen, den Blick auf die Straßenlaterne gerichtet, dann setzte er den Blinker und wendete. Ein Blick über die
     Schulter zeigte ihm, warum es die letzten zehn Minuten so still im Wagen gewesen war. Anna und Leni waren eingeschlafen.
    Das Haus der Martìns lag in tiefes Dunkel gehüllt. Es wirkte so, als wären seine Bewohner schon vor langer Zeit gegangen.
     Einen Augenblick blieb Sommerkorn im Wagen sitzen, den Blick auf das Haus gerichtet, dann sah er auf die Uhr und fuhr wieder
     los. Den Berg hinunter,

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