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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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großen Schluck von dem pflasterfarbenen
     Gebräu. In dem Moment glaubte sie irgendwo tief in ihrem Inneren so etwas wie ein Flirren zu spüren, und plötzlich wusste
     sie, dass sie zum ersten Mal ganz nah dran war. Sie richtete sich auf, räusperte sich und wollte gerade nachhaken, als das
     Telefon zu läuten begann. Stella zuckte zusammen. Sie stand abrupt auf und griff nach dem Hörer. Maries Hände ballten sich
     zu Fäusten.
     
    *
     
    Die Müdigkeit war allgegenwärtig. Die Sehnsucht, sich im Schlaf aufzulösen, im Schlaf, der doch nie kommen wollte, so richtig.
     Und dann die Pillenfresserei. »Warum?«, hatte Paula die Pflegerin gefragt, als man ihr die erste Tablette in die Hand gedrückt
     hatte. Was ändert sich dadurch? Die werden Ihnen helfen. Wie denn, hatte sie gefragt, aber die Antwort nicht abgewartet und
     das Ding geschluckt. Mit Wasser hinuntergewürgt. An sich hatte sie nichts gegen Tabletten. Warum sollte man sich das Leben
     nicht ein wenig erleichtern. Aber in ihrem Fall? Was sollten diese Tabletten denn bewirken. Es war geradezu grotesk! Pillen,
     die Tote auferstehen ließen, Lügen beseitigten und Häuser zurückholten. Und einmal die Woche Gesprächstherapie. Da saßen dann
     all die Gestalten im Kreis, traurige Menschen mit traurigen Gesichtern. Was sollte dabei schon herauskommen, wenn jeder im
     eigenen Leid wühlte. Und immer wieder das Echo der Frage, die langsam zu einer fixen Idee zu werden schien. Ausnahmsweise
     nicht ihre fixe Idee, sondern die von Sommerkorn und Marie. Was mit der Asche zu geschehen habe, verdammt!
    Natürlich musste sie eine Lösung finden. Und sie hatte auch schon einmal versucht, darüber nachzudenken. Aber mit den Medikamenten
     im Blut fiel ihr das Denken so verdammt schwer. Wo sollte sie ihn beerdigen lassen? Auf dem Aeschacher Friedhof? Sie würde
     nie wieder in Schachen wohnen, das war wahrscheinlich die einzige Gewissheit in ihrem Leben, die sie besaß. Ein Haus, ach
     was, eine Wohnung in Schachen würde sie sich nie wieder leisten können. Oder gab es da Luxuswohneinheiten für Hartz-I V-Empfänger ? Denn das war sie jetzt. Vom Tellerwäscher zum Millionär – nur umgekehrt. Aber auf welchem Friedhof sonst? In Bad Tölz, wo
     Erik herkam? Niemals, dann konnte sie dieAsche gleich in alle Winde zerstreuen. Friedrichshafen. Das hatte Andreas vorgeschlagen. Aber was hatte der Friedhof in Friedrichshafen
     mit Erik zu tun? Wer weiß, wie lange sie dort wohnen würde. Wenn sie jemals hier herauskäme. Aber das war ja ohnehin egal.
     Sie war so müde.
     
    ☺
     
    Es ist so fürchterlich, am liebsten würde ich nie wieder in die Schule gehen. Ich habe von nichts gewusst! Eigentlich hätte
     mir gleich bei den Fahrradständern ein Licht aufgehen müssen. Als der Erste mich ansah, mit so einem unglaublich breiten Grinsen.
     Als ich über den Schulhof zum Eingang ging, haben sie sich gegenseitig Rippenstöße verpasst und losgeprustet. Dann hat mir
     einer, den ich gar nicht kenne, zugebrüllt, aber so, dass es alle hören konnten: »Hey, bei mir ist am Wochenende ne Bare-Back-Party,
     wir könnten noch einen guten Mann gebrauchen!«
    In der Klasse haben sie sich gar nicht mehr eingekriegt. Sie haben sich kaputtgelacht. Und ich saß da, ganz allein, und habe
     nichts gecheckt. Irgendwann bin ich dann abgehauen. Vicky ist mir nachgekommen und hat mir erst mal erklärt, worum es eigentlich
     ging. Ich hab ihr zugehört und konnt’s nicht glauben. Bin dann sofort nach Haus und hab’s mir angesehen.
    Irgendso ne Sau muss mich mit nem Handy heimlich gefilmt haben, als ich das Gedicht vorlas. Und dann hat dieses Schwein ein
     Video draus gemacht, ein Schwulenvideo, und bei YouTube reingestellt. Er hat meinen Vortrag geschnitten und so mit Bildern
     kombiniert, dass ich wie ein Homo rüberkomm. Und alle – alle – in der Schule haben es gesehen. Ich bin fertig. Brauch mich
     in der Schule nie mehr sehen zu lassen.

Wendepunkte
    Cyber-Mobbing avanciert zu einem neuen Gesellschaftsspiel. Die große weite Welt des Internets und das kleine Display omnipräsenter
     Mobiltelefone sind die ideale Plattform für verbale Prügeleien ohne Vermummungsverbot. Täter und Opfer kennen sich meist aus
     dem wirklichen Leben, nur weiß das leider oft nur einer von beiden. Und Genugtuung durch Bestrafung und Schmerzensgeld gewähren
     die Gerichte nur, wenn der Täter auch dingfest gemacht werden kann.
    (Tobias H.   Strömer, Rechtsanwalt)
     
    Als Stella den Hörer auf die

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