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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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was war das Motiv hinter dieser Botschaft? Hass? Rache?
     Eifersucht?
    Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Im ersten Moment wollte er den Anrufer schon wegdrücken, doch dann erkannte er die
     Nummer von Josef Hochberger.
    »Hallo Josef! Was gibt’s?«
    »Mir ist noch etwas zu den Radarbildern eingefallen.«
    »Ja?«
    »Ich hab mich umgehört. In der Nacht des zwanzigsten November war der Citytunnel vorübergehend wegen Reinigungsarbeiten gesperrt.
     Ab zweiundzwanzig Uhr. Das heißt, euer Freund musste die Ailingerstraße nehmen, um zum Friedhof zu gelangen.«
    »Verstehe.« Eine Pause enstand, und Sommerkorn wollte schon nachfragen, ob es sonst noch etwas gäbe.
    Da fuhr Hochberger bereits fort: »In der Ailinger Straße hatten wir an diesem Abend zusätzlich zum stationären Ampelblitzer
     auch ein mobiles Radargerät für Tempo fünfzig stehen.«
    Sommerkorn rauschte das Blut in den Ohren. Plötzlich war er hellwach.
    »Wenn du gleich vorbeikommen möchtest. Ich hab die Bilder schon vorliegen.«
    Zehn Minuten später saß Sommerkorn vor Hochbergers PC.   Bei den Personen, die zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr in die Falle gegangen waren, war kein Oberstudienrat
     Walser in einem roten Renault Scenic dabei. Da dieser laut Aussage seiner Frau gegen dreiundzwanzig Uhr wieder zu Hause gewesen
     war, gab es keinen Grund, sich noch weitere Fotos anzuschauen. Sommerkorn klickte noch durch die nächsten paar Bilder – mehr
     aus Pflichtgefühl, denn die Hoffnung, noch etwas zu finden, hatte er bereits aufgegeben. Plötzlich erstarrte er. Er klickte
     noch einmal zurück, setzte seine Brille ab und beugte sich nach vorne, näher an den Bildschirm heran. Was er dort sah, war
     so unglaublich, dass er die nächsten Sekunden schweigend darauf starrte.
     
    ☺
     
    Heute haben wir die Texte besprochen, die wir zum Diskuswerfer des Myron geschrieben haben. Frau Bärlach hat ein paar vorlesen
     lassen, mich auch. Nachdem ich gelesen hatte, lag eine große Stille über dem Raum. Frau Bärlach hat mich angesehen, irgendwie
     war’s wohl gut. Sie hat von großer Sensibilität gesprochen. Und ob ich mir bewusst sei, welches Talent ich mitbekommen hätte.
     Frau Bärlach sagte, mein Gedicht »atmet die Schönheit und Perfektion dieses männlichen Körpers, die Sehnsucht nach Ewigkeit
     hervorruft«. Ich finde das Gedicht selbst gelungen, und ich hätte beim Schreiben tatsächlich Lust bekommen, noch mehr zu schreiben,
     nicht nur Tagebuch. Aber nach dem Unterricht, als wir den Klassenraum verließen, gab es wieder die übliche Frotzelei. Irgendwie
     haben sie jetzt wohl doch mitgekriegt,dass ich nicht mehr mit ihnen zusammen bin. Und irgendjemand rief: Ich wusste gar nicht, dass du ne Schwuchtel bist! Und ein
     anderer ist gleich auf den Zug aufgesprungen: Tolles Gedicht, Schwuchtel!
     
    *
     
    Es war zehn vor acht Uhr morgens, und wie meistens war Marie auch diesmal zu früh dran und wartete seit ein paar Minuten im
     Hof. In zehn Minuten würde sie mit Stella nach Leutkirch fahren, zu ihrem letzten Sprung. Sie hatten sich vor dem Haus verabredet,
     doch als eine Frau auf den Hof trat und Marie lächelnd die Haustür aufhielt, entschied diese, nach oben zu gehen und an Stellas
     Wohnung zu klingeln.
    Stella öffnete und stand mit verquollenen Augen da, auf ihren Wangen hatten sich schwarze Spuren gebildet.
    »Was ist passiert?«, fragte Marie erschrocken.
    »Es tut mir leid, aber ich kann heute nicht nach Leutkirch fahren.« Sie wischte sich die Nase mit einem zusammengeknüllten
     Papiertaschentuch ab.
    Marie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Aber   … das macht ja nichts«, erwiderte sie lahm. Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Wenn ich dir irgendwie helfen
     kann.«
    Stella blickte Marie an. »Ich habe mit Jojo gestritten«, stammelte sie.
    »Mit Jojo?«
    Stellas zittriger Atem ging in ein Schluchzen über. Sie wandte sich ab und verschwand durch eine Tür. Einen Moment lang zögerte
     Marie, dann betrat sie die Wohnung, schloss die Tür und folgte Stella in die Küche. Mit hängenden Schultern, die dann und
     wann zuckten, stand diese da, und Marie blieb einfach vor ihr stehen mit einemGesichtsausdruck, der zuversichtlich sein sollte. Nach einer Weile legte sie einen Arm um Stella.
    »Wenn du reden willst.«
    Das Weinen ebbte ab, Stella schnaubte in ihr Taschentuch und wischte die Tränen weg. »Es ist alles so kompliziert. Jojo ist
     völlig ausgerastet und einfach

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