Novembermond
obwohl die Stiftung keine eigene Website besaß . Ich überflog die Angaben. Die Stiftung wurde im Zusa m menhang mit sozialen Projekten genannt, für die sie sich engagierte. Das fand ich z war sehr beeindruckend, gab mir aber nicht die Informationen, die ich suchte. Dann also die Wachschutzfirma. Nacht-Patrouille . Aha. Diesmal gab es eine Webs i te, sie konnte sogar in mehreren Sprachen aufgerufen werden. Ich las die Startse i te und klickte mich durch verschiedene Inhalte und Links. Leider wurde n ni r gendwo Mitarbeiter vorgestellt oder Namen genannt, auch nicht von der G e schäftsleitung. Enttäuscht lehnte ich mich zurück und bewegte meine v er span n ten Schultern. Immerhin hatte ich nachgesehen, und mehr konnte ich nicht tun.
Ich verließ das Internet und rief das Verwaltungsprogramm der Klinik auf. Es wurde Zeit, mich wieder mit meinen Entlassungsberichten zu beschäft i gen. Ich zog die oberste Akte vom vorderen Stapel und schaltete mein Diktierg e rät ein, denn ich hatte mir vorgenommen, heute nicht eher nach Hause zu gehen, bis ich wenigstens einen davon abgearbeitet hatte .
Dennoch fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, die Erinn erungen an ge s tern blitzten immer wieder auf. Heute, bei Tageslicht, wirkten sie unklar und ve r schwommen, obwohl ich mich an bestimmte Details wie die Hinfahrt nach Schwanenwerder und die b e eindruckende Villa genau erinnerte. Ich hätte sogar die Einrichtung der Halle und des Zimmers, in dem ich mich mit Julian unterha l ten hatte , genau beschreiben können. Auch die Szene am Kra n kenbett, Julians undurchdringlicher Gesichtsausdruck und Christians leeres und erschöpftes G e sicht standen mir noch deutlich vor Augen. H atte sich sein Ge sundheit s zustand nach dem Besuch von Julian wirklich dauerhaft verbessert? Es war mir jedenfalls ein Rätsel, wie er heute Morgen gesund aus der Klinik hinausspazieren konnte . Schließlich hatte ich genau gewusst, wie krank er war . I ch hatte es selbst g e spürt.
Und dieser Julian. Sein blasses, arrogantes Gesicht mit diesen unglaublichen Augen hatte mich noch immer nicht losgelassen, obwohl er mit seinem Macho-Gehabe überhaupt nicht mein Typ war . Er hatte den Charme eines mo dernen Gefrierschranks – besonders energiesparend. Aber anstatt weiter über ihn nac h zu denken , sollte ich lieber meine Erinnerungen sortieren, das war sin n vol ler.
Da war zum Beispiel die Heimfahrt, die sich irgendwo im Nebel meiner Eri n nerung verlor. Meine unendliche Müdigkeit. W ar um war ich gestern Abend so müde? W ar um hatte ich mich überhaupt nach Hause fahren lassen? Und was mir besonders zu schaffen mac h te: Ich hatte keine Ah nung w ie es kam, dass ich mich überhaupt zu dieser späten Fahrt in die Klinik hatte über reden lassen. Und di e sem Julian erlaubte, mich wie eine Praktikantin aus dem Krankenzim mer zu sch i cken. Wie konnte ich derart unprofe s sionell handeln? Nur weil er es wünscht e ? Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Ich musste mir doch etwas dabei gedacht haben.
Fragen über Fragen.
Manche Erinnerungen an gestern Abend fielen mir nicht nur schwer, sie lösten auch Angst aus, und ich hasste es, Angst zu haben. Noch nie hatte ich so ängs t lich auf einen Menschen reagiert wie auf diesen Julian . Und geho r sam , gleich mehrere Male. Als wäre ich ihm völlig ergeben. Oder ausgeliefert. Dennoch hatte mich seine A n ziehungskraft bis in meine Träume ve r folgt.
Und a usgerechnet heute hatte ich verschlafen und war zu spät zur Arbeit g e kom men. H atte er mir Drogen verabreicht? Mich betäubt? Das würde vieles e r klären, auch meine Erinnerungslücke. Aber war um hätte dieser Mann etwas so Verrücktes tun sollen? Davon abgesehen, dass ich bei ihm weder gegessen noch getrunken hatte , nicht einmal ein Glas Wasser. Diese Theorie war ohnehin a b surd. Denn w a r um hätte er mir schaden sollen?
Julian strahlte Härte und Kälte aus, wie ich es noch nie erlebt hatte . Ich war mir sicher, dass er seine Ziele rücksichtslos verfolgte . Aber das konnte mir egal sein. L etztendlich war es uns beiden nur darum gegangen , Christian zu helfen. Chri s tian ging es tatsächlich besser, und dagegen war nichts einzuwenden. Ich seufzte. Ich sollte diesen Julian endlich aus meinen Gedanken vertreiben . Vermutlich war ich einfach nur überarbe i tet. Und übe r dreht. Am Wochenende würde ich endlich einmal ausspannen. Viel leicht sollte ich diesmal keine Arbeit mit nach Hause nehmen. Ausnahm s weise.
Der
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