Novembermond
während ich versuchte, di e sen Satz zu verdauen. Es fiel mir immer wieder schwer, seine Äußerungen einz u ord nen. Sie waren übertrieben höflich. Immer scharfsinnig. Gnadenlos ehrlich. Und manc h mal fast schon naiv.
„Sie scheinen mir nicht zu glauben“, meinte er erstaunt.
„Ich habe schon oft festgestellt, dass Menschen sehr unterschiedlich auf me i nen Beruf reagieren.“
„Inwiefern?“
Ich betrachtete sein Gesicht, sah das Interesse in seinen Augen, den Hauch e i nes Lächelns. Dann erzählte ich ihm, wie mich eine Frau bei einer Silvesterfeier mit ihren Eheproblemen überschüttete, nachdem sie von meinem Beruf erfahren hatte . Und von meiner letzten Ve r abredung mit Arne, dem Lehrer, wobei ich mich über meine Offenheit wunderte.
Julian war ein guter Zuhörer. Er hörte zu, ohne mich zu unterbrechen, und se i ne Aufmerksamkeit war ganz bei mir, vom Anfang bis zum Ende meiner G e schichte. Dann verzog er den Mund zu einem halben Lächeln. „Was für ein Ei n faltspi n sel.“
„Einfaltspinsel?“ wiederholte ich erstaunt. Dann musste ich über diesen ant i quierten Ausdruck schmunzeln. Die Geschichte bekam durch Julians R e aktion eine neue Note. Arne, der Lehrer, war wirklich nur ein Einfaltspinsel. Ge nau.
„Von diesem bedauernswerten Mangel an Takt ganz abgesehen. Wie kann er mit Ihnen zusammen sein und über seine Mutter reden wollen?“, begründete er ve r ständnislos.
Ich sah ihn an und wurde rot. „Worüber hätten Sie an seiner Stelle ger edet?“, fragte ich hastig, bevor ich es mir anders überlegen konnte .
„Über Sie.“
„Über mich?“
„Um Sie besser kennenzulernen. Sie sind eine überaus schöne und intere s sante Frau.“
Meine Stimmung veränderte sich sofort. Mit Komplimenten hatte ich noch nie gut u m gehen können. Plattitüden mochte ich nicht, und was sollte ein Mann wie Julian an mir interessant finden? „Mit schönen Frauen kennen Sie sich selbstve r ständlich aus“, stellte ich herausfordernd fest.
Julian schwieg. Er sah mich nur an.
Ich spürte, wie mir schon wieder die Hitze ins Gesicht stieg. W ar um hatte ich nicht einfach meine Klappe gehalten? Natürlich kannte ein Mann wie er viele schöne Frauen. Aber das war bestimmt kein Thema, das ich mit ihm bespr e chen wollte.
Zu meiner Überraschung beantwortete er meine Frage. Ganz ruhig, fast emot i onslos. „Ja, das tue ich.“ Er sah mich unverwandt an. „Jedenfalls sche i ne ich Sie beleidigt zu haben. Bitte glauben Sie mir, dass dies keinesfalls meine r A b sicht entsprach .“
„Ich weiß“, lenkte ich hastig ein. „Entschuldigen Sie.“ Herrje. Mit meiner dummen und achtlosen B e merkung hatte ich den Abend kaputtgemacht. Das bedauerte ich mehr, als mir lieb war . Wenn es um Männer ging, war ich sozial übe r haupt nicht mehr kompatibel, trotz meines Diploms in Psychologie. Ich sollte zu einem neutralen Thema wechseln. Über den ewigen Novemberregen sprechen oder Fußball. Vor allem musste ich den peinlichen Abend so schnell wie möglich beenden. Wie viele Gänge noch? Zwei? Oder drei?
„Was finden Sie denn so schön und interessant an mir?“, hörte ich mich fr a gen, wobei ich mein vernünftiges, aber viel zu schwaches Ich schon wi e der über den Haufen rannte.
„Wollen Sie meine Meinung wirklich wissen?“ Das hörte sich bei aller Höflic h keit wie eine Drohung an .
Wir starrten uns an. Keiner machte Anstalten, die Stille zu brechen. High Noon. Wie albern.
Schließlich nickte ich. Ich wünschte es mir anders, aber ich wollte ihm gefallen.
Langsam musterte er mich. „Was Ihre physische Schönheit betrifft: Ihre F i gur … die Form Ihres G e sichts … Ihr Mund und Ihre Augen sind tadellos. Ihr Haar ist lang und blond, und diese Farbe wird von vielen Männern bevorzugt.“
Autsch. Da heißt es immer, Blondinen hätten mehr Spaß. Aber so , wie Julian es au s drückte, schien er keine Vorliebe für Blondinen zu haben, genau wie mein Ex-Freund.
Wie hatte ich es nur geschafft, mich in eine derart idiotische Situation zu bri n gen? Anstatt Julian mit kühler Souveränität zu beeindrucken, blamierte ich mich durch meine dummen Bemerkungen und Fragen bis auf die Knochen.
Aber Julian war noch nicht fertig. „Wie Sie wissen, liegt Schönheit ohn e hin im Auge des Betrachters. Und mir bedeutet … physische Schönheit im Allgemeinen wenig. Sie ist oftmals ermüdend. Und lan g weilig.“
„Langweilig?“ , fragte ich konsterniert. Das war mal ganz was Ne u
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