Novembermond
herrschte.
Das Bild verblasste, und die Szene veränderte sich erneut. Ich sah Julians nac k ten Oberkörper, seine kräftigen Schultern, sein ernstes Profil. Er hielt etwas in den Händen. Ein Schwert. Er berührte es an verschiedenen Stellen, schnell und sicher, als würde er es überprüfen und hätte das schon sehr oft getan. Plötzlich blickte er auf, jemand war hinzugekommen, eine Frau. Er sah sie an, mit einem Aus druck i m Gesicht , der mir einen Stich versetzte. Auf ei n mal wünschte ich mir nichts mehr, als dass er mich so ansehen würde. Dann wandte ich meine Au f merksamkeit der Frau zu und erschrak. Ich konnte ihr G e sicht nicht erkennen , aber das war auch nicht notwendig.
Ich wusste, diese Frau war ich.
„ Tut mir leid“, sagte ich und riss meine Hand hastig weg.
„Mir nicht“, sagte Julian, seine Stimme war rau. „Du bist eine wirklich ung e wöhnliche Frau. Mit beeindruckenden Fähigkeiten.“
Dann kam der Kellner mit dem nächsten Gang, und Julians Gesicht ve r schloss sich. Ich mied seinen Blick. Ich hatte so viel über ihn erfahren. Und gar nichts.
Meine Hände zitterten, und ich konzentrierte mich darauf, mein Besteck fes t zuhalten. Diesmal schaffte ich es immerhin, langsam zu essen. Dabei versuchte ich, mein inneres Chaos zu beruhigen. Was war gerade passiert? Zw i schen uns? Meine Visionen waren noch nie mit dieser archaischen Wucht zu mir geko m men. Ich hatte geglaubt, sie schon seit Jahren kontrollieren zu können, ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein. Und nun bekam ich sie zum zweiten Mal i n ne r halb einer Woche nicht i n den Griff. Gleichzeitig fragte ich mich, ob Jul i an di ese Bilder mit mir teilt e . Das war bisher noch nie passiert, aber er reagierte so sel t sam, dass ich es für möglich hielt. Ich wagte aber nicht, ihn zu fragen.
„Auf alles, was gerade passiert ist, war ich genauso wenig vorbereitet wie du. Du hast … meine G e fühle mitempfunden. Stimmt das?“
„Ich glaube schon“, sagte ich hilflos.
„Und da war noch mehr, oder? Etwas, das du nicht immer beherrschen kannst.“
Was hatte Julian gesagt? Er hatte eine ähnliche Gabe wie ich? Und wenn das wirklich so wäre ? Ich hatte schon so lange den verzweifelten Wunsch, meine Erfahrungen mit jemandem teilen zu können und verstanden zu werden. Das war mir nur mit meiner Schwester möglich gewesen . Aber wollte ich wirklich mit Julian über meine Visionen sprechen? Mich einem Mann wie ihm , über den ich nicht das Geringste wusste, durch meine Offenheit au s liefern?
Das machte mir Angst.
Julian hielt den Blick gesenkt, seine Lider waren halb geschlossen, sodass ich nicht in seinen Augen lesen konnte . Er fuhr mit den Fingern über die Tisc h decke, als würde er ihre Beschaffenheit überprüfen, und war tete auf eine Antwort, wä h rend ich schwieg.
„Ich verstehe, dass es dir schwerfällt, darüber zu sprechen“, sagte er endlich. „Vielleicht wirst du deine Meinung ändern. Wenn du erkennst, dass du mir ve r trauen kannst und ich einiges von dem, was dich ausmacht, besser verstehe als du selbst.“
Julian griff nach seinem Weinglas, betrachtete es, nahm einen Schluck und set z te es wieder ab. Mein Schweigen schien ihn zu enttäuschen, aber ich erkannte, dass er meine Entscheidung respektierte . Seine behutsame Einl a dung hatte mir alle Möglichkeiten offengelassen, aber es war diese Zurüc k haltung, die mir keine Wahl ließ. So war f ich alle Vo r sicht über Bord.
„Ich habe so etwas wie … Visionen. Manchmal “, platzte ich heraus.
„Ich weiß.“
„Hast du … meine Bilder mit mir geteilt?“
„Ja.“
Ich starrte ihn an. Ich weiß? Ja? Das war alles?
„Ellen. Das Bild von der Welt scheint den Menschen nur so, wie sie es erlernen und z u lassen. Aber manchmal erfahren sie mehr Wahrheit, als sie wissen wo llen. Auch über die, die ihnen gegenübersi t zen.“
Ich nickte verwirrt und konnte nicht fassen, welche Richtung unser Gespräch g e nommen hatte .
Julian lehnte sich zurück und fing an, mit einer Falte des weißen Tischtuchs zu spielen. „Aber ich weiß nicht, ob du für die Wahrheit bereit bist. Und für Kons e quenzen, die du unmöglich begreifen kannst.“
„Die Wahrheit, die mit meinen Fähigkeiten zu tun hat? Und deinen?“
Julian nickte.
„ Was ist die Wahrheit? Ich versuche schon lange, etwas darüber herauszufi n den. “
Julian zögerte.
„Wahrheit ist nicht kompliziert“, meinte ich. Mein Misstrauen kehrte z u rück. Was wusste er
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