Novembermond
wirklich?
„Es hat immer schon Männer und Frauen mit besonderen Anlagen g e geben , und du … “ Julian war kein Mann von halben Sätzen, aber jetzt zögerte er schon wi e der , und das e r staunte mich .
„Du scheinst nichts oder wenig von dem, wa s dich ausmacht, zu wissen“, mei n te er en d lich. „ Du gehörst keinem Zirkel an, keiner Gem einschaft, hast keine Ahnung … Dabei bist du so viel stärker, als du glaubst. Wenn du deine Gabe anders nutzen würdest, könntest du großen Einfluss erla n gen. Aber daran scheint dir nichts zu liegen. Du nutzt deine Macht , um zu helfen , aber deine Ahnungsl o sigkeit bring t dich in Gefahr . D ir fehlt es an Wissen . Wissen über andere Mächte, das du brauchst, um d ich schützen zu können. Dein Gegenüber könnte alt und mächtig sein und d ir an Stärke weit überlegen. Es könnte Interessen ve r folgen, von denen du keine Ahnung hast. Deshalb solltest du vorsichtig sein, mit wem du dich ve r bindest. Nur, wenn die Verbindung im Aufbau ist und schwach, kannst du dich noch rechtzeitig schützen und zurüc k ziehen.“
Ich starrte ihn an , rieb mir über den Nacken und hatte das Gefühl, mich an e t was Wichtiges erinnern zu müssen. Ihm wichtige Fragen stellen zu müssen. Ich durchforschte mein Gedächtnis, aber mir fiel keine ein. D ie selbstverständliche Sachlichkeit, mit der Julian seine Erklärungen gab, schien eine beruhigende Wi r kung auf mich zu haben . Eine ganz normale Unterhaltung über ein völlig ve r rücktes Thema.
„W as ist mit deiner e igenen Gabe?“, fragte ich .
„Ich konnte schon früh , seit meiner Kindheit, die Absichten eines Menschen erkennen. Inzwischen habe ich Übung darin, mich auf sein Wesen einzustimmen und an seinen Erinnerungen teilzunehmen. Manchmal kann ich auch ein Bruc h s tück der Zukunft e r kennen.“
„Dann hast du wirklich gesehen, was ich gesehen habe?“
„Ja.“
„Alles?“ Ich wurde rot.
Er schwieg. Ich sah den Hauch eines Lächelns, ein aufblitze ndes Verstehen in seinen Augen . „Wir werden darüber sprechen, Ellen. Über die Zukunft. Aber nicht heute. Heute möchte ich einfach nur mit dir zusammen sein. Dich spüren. “ Julians Stimme war sanft, und ihr Klang trieb mir die Hitze in den Schoß. „Und du, Ellen? Was willst du?“
Wir sahen uns lange an. Die Intensität seiner Gegen war t beherrschte mich , und alle Fragen verloren ihre Bedeutung. Ohne nachzudenken , schob ich meine Fi n ger in seine Hand, und diesmal nahm er sie sofort. Sein Daumen strich lan g sam über meine Handfläche, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Wie hatte ich ihn je für einen Eisblock halten können?
Julian schien zu wissen , was in mir vorging, sein Blick intensiver zu we r den und sich mit meinem zu verbinden . S eine kühle Selbstkontrolle ze r splitterte. Dahinter erkannte ich ein glühendes Feuer aus Leidenschaft, Freude und Angst, heftige Erregung. Ich e r regte ihn.
Wir saßen uns gegenüber, sahen uns an , während er nur meine Hand hielt . Aber wir tauchten gemeinsam in einen dunklen See aus Verlangen , und ich füh l te seine Hände auf meinem Kör per, sein Gewicht, das ich auf mir wil l kommen hieß, glaubte, ihn in mir zu sp ü ren, den Triumph des Besitzes, die vollständige Erl ö sung, und wusste nicht, ob dieses Bild zu ihm oder mir gehörte. Dann, für einen Bruchteil, war neben diesen Bil dern, neben der Lust ein tiefer Abgrund gieriger Macht, eine brutale und kaum gezügelte Wildheit, die mir plötzlich genau so schnell wieder verschlo s sen war , als hätte er die Tür dorthin mit der Kraft seines Willens z u geschlagen. Für einen Moment war ich überwältigt von der Intensität dieser Eindrücke und unfähig, unterscheiden zu können, was Real i tät war und was Ei n bildung.
Ich riss meine Hand von ihm los und schloss die Augen , um mich seiner Wi r kung zu entziehen . Mühsam versuchte ich , meinen aufgeregten Atem unter Ko n trolle zu bri n gen.
Was war das? Er teilte meine Gabe?
Das hier war etwas völlig anderes.
Als ich ihn wieder an sah , war da nur noch der attraktive Mann, der mir gege n übersaß . Sein Gesicht still, das Feuer darin erloschen. Nur die Au gen zeig ten ein leises Echo seiner Leide n schaft.
Zum ersten Mal fragte ich mich, wer Julian wirklich war .
Inzwischen war jeder Tisch im Palmengarten besetzt. Alles wirkte wie ein we i tes Meer aus Kerzen, ein Funkeln in Weiß und Gold. Der Klang der angere g ten Stimmen ver band sich mit den schimmernden Farben und
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