Novembermond
es.
„Langweilig.“ Sein konzentrierter Blick wich einem leichten Lächeln, das er s o fort wieder einfing. „Was im Übrigen für Männer und Frauen gleichermaßen gilt. Physische Attraktivität nimmt leider nur zu oft einen ungünstigen Einfluss auf den Gebrauch des Verstandes. Deshalb habe ich die Persönlichkeit und …“, hier schien er erstmals nach Worten zu suchen, „die Vitalität, die Leben s erfahrung einer Frau und was sie daraus gemacht hat, schon immer attraktiver gefunden. Was mich an Ihnen also viel mehr b e eindruckt, Frau Langner, als Ihr Aussehen, das durchaus sehr anziehend ist, ist etwas anderes. Ihre innere Kraft. Ihre Wi l lensstärke. Und vor allem Ihre liebevolle Freundlichkeit und Sensibilität für die Gefühle und Bedürfnisse Ihrer Schutzbefohlenen. Also Ihre innere Schönheit. Ihre Essenz. Oder wie auch immer Sie das Mysterium nennen wollen, das die Einzigartigkeit eines Menschen au s macht.“
Ich starrte ihn an. Seine Worte hatte n mein Herz berührt und es weit g eöffnet. So sehr, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
Julian beobachtete mich, und sein Gesichtsausdruck wurde erstaunlich sanft. „Wobei ich heute einige Male festgestellt habe, dass Ihre Worte nicht un bedingt Ihrem Wesen en t sprechen. Auch frage ich mich, ob der gewaltige Ärger, den Sie eben zum Ausdruck bracht en , wirklich mir gegolten hat.“
Verflixt. Ein guter Psychologe war dieser Mann auch noch.
Ich dachte an Thomas. An meinen Vater und die unzähligen junge n Frauen, zu denen meine Schwester und ich nach dem Tod unserer Mutter nett sein mussten.
Unter Julians forschendem Blick senkte ich hastig das Gesicht, griff nach me i ner Han d tasche und wühlte ausgiebig darin herum.
Ich wünschte mir, weiter über Julian lästern , herziehen und ihn mir dadurch auf Abstand halten zu können , aber das funktionierte nicht mehr.
„Ich hoffe, ich habe Ihre Frage ausreichend beantwortet“, sagte er in die Stille. „Die Idee, mich mit Ihnen über … Mütter zu unterhalten, fände ich also alles andere als naheliegend“, griff er unser G e sprächsthema wieder auf. Sein Tonfall war unverfänglich, doch er ließ mich nicht aus den Augen.
Ich lehnte mich zurück, und meine Zurückhaltung behielt tatsächlich die Obe r hand. Für etwa eine Minute. „Meine … Sensibilität?“, fragte ich widerwillig. „Wie meinen Sie das?“
„Ich besitze eine ähnliche Gabe wie Sie. Darf ich Sie … dich Ellen nennen?“
Ich sah in seine unglaublichen Augen, die mi ch nun nicht mehr ängstigten , o b wohl sie so tief in mein Innerstes blicken kon n te n, und nickte. Ich hatte noch nie solche Augen gesehen. Sie waren silbe r grau. Hart wie Felsen aus Granit. Nein, ich änderte meine Meinung. Seine Augen ve r mittelten Kraft und Stärke und waren so schön und glänzend wie das Silber des Meeres kurz vor der Abenddämm e rung.
Ich fühlte mich magisch von ihnen angezogen.
Spontan legte ich meine Hand auf seine. Für einen Moment erstarrte er, und ich spürte eine kurze B e wegung, als woll t e er seine Hand wegziehen, aber dann drehte er sie und griff nach meiner. Seine Han d fläche war kühl, ebenso wie der kurze Druck seiner Finger. Ich erschrak über mich selbst. Was sollte er jetzt von mir denken? Als ich meine Hand zurückziehen wollte, wurde der Druck seiner Finger stärker, und er hielt mich fest. Seine Hand erwärmte sich in meiner, und diese Wärme breitete sich überall in meinem Körper aus.
Julians distanzierte Ruhe verschw a nd. Für einen ewigen Moment fühlte ich Schmerz, seinen Schmerz, der schwächer wurde und sich endlich zurückzog, abgelöst von einer machtvollen Energie, die mir wild und kraftvoll entgege nströmte. Sie packte mich wie ein Sturm und riss mich mit.
Sofort und gegen meinen Willen hatte ich eine Vision. In meiner Vision sah ich ihn, Julian. Sein helles Hemd bauschte sich im Wind. Er saß auf einem dunklen Pferd, unterhielt sich lachend mit einer Frau, von der ich nur das braune Haar erkennen konnte , das zu einem losen Knoten zusammengebunden war . Julians Haare waren lang und zerzaust, die grauen Augen leuchteten hell in seinem so n nengebräunten Gesicht und blitzten vor Freude.
Das Bild wechselte. Nun war es tiefe Nacht. Julian saß mit ei n i gen Männern an einem Kaminfeuer. Ihre Kleidung wirkte altmodisch, die Gesichter waren ernst und erschöpft. Ich spürte Julians düstere Stimmung und Besor gnis, aber auch die tiefe Verbundenheit, die zwischen allen
Weitere Kostenlose Bücher