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Novembermond

Novembermond

Titel: Novembermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Heyden
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seine Wandlung – seine Wandlung durch Julian – zu durchleben, musste das Coolste überhaupt sein.
    Einfach nicht zu toppen.
    Wie gesagt, die Gelegenheit war günstig.
    „Du verlangst sehr viel. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Für unsere Beziehung. Diese Erinnerungen sind sehr … intim.“
    „Ich weiß“, flüsterte Christian. „Deshalb möchte ich sie ja unbedingt mit dir teilen. Ich möchte alles von dir wissen. Einfach alles. Die Grenzen zwischen uns aufheben und eins mit dir werden. Vielleicht wird unsere gemeinsame Erinnerung irgendwann einmal ganz ähnlich sein? Außerdem will ich wissen, was auf mich zukommt. Auf uns beide.“
    Richard senkte den Blick. Christian merkte, wie unschlüssig er war, und witterte seine Chance. „Bitte!“ Er drehte sich auf die Seite und vergrößerte seine Anstrengungen, indem er die Hände langsam über Richards nackten Körper wandern ließ, von seinem perfekten Hintern über die Wirbelsäule aufwärts bis zum Nacken. Die Rücken- und Schultermuskeln unter Richards glatter Haut reagierten sofort und spannten sich. Christian liebte seine Macht über Richard und nutzte sie, fuhr fort, ihn sachte zu streicheln. Erst mit den Händen, dann mit den Lippen.
    Richard seufzte zufrieden. „Es ist dir wirklich ernst, oder?“
    „Natürlich.“
    „Jetzt?“
    „Sofort.“
    „Also gut“, sagte Richard träge. „Sonst wirst du ja doch keine Ruhe geben.“ Er richtete sich auf, indem er sich auf die Oberarme stützte, liebkoste Christians Lippen und berührte ihn mit seiner kühlen Hand an der Stirn.
     
    *
     
    Richard erinnerte sich. Es war im Mai 1982, als er starb.
    Damals wohnte er in einem besetzten Haus und saß auf seinem Lieblingshocker am Tresen einer Szenekneipe in Kreuzberg, ganz in der Nähe der U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof. Als ein glatzköpfiger Mann in Bomberjacke und Springerstiefeln eine junge Frau belästigte, war er ohne zu zögern dazwischengegangen und ihr nicht von der Seite gewichen, bis sie in einem Taxi davonfuhr. Was Richard allerdings nicht ahnte, war, dass ihm dieser Mann auf seinem Heimweg in Richtung Schlesisches Tor gemeinsam mit vier Freunden unter den U-Bahn-Bögen der Skalitzer Straße auflauern würde. Anfangs konnte Richard gut dagegenhalten. Aber irgendwann reichte es seinen Gegnern nicht mehr, nur mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen. Einer von ihnen zog sein Messer, ein anderer opferte seine Bierration, indem er die Flasche an einem Pfeiler der Hochbahn zerschlug und die Überreste dazu nutzte, Richard zu bearbeiten.
    Julian, der in dieser Nacht zufällig Kreuzberg durchstreifte, konnte die Angreifer schnell vertreiben. Trotzdem wusste er sofort, dass es für menschliche Erste Hilfe zu spät war. Aus einer verletzten Arterie floss mit jedem Herzschlag Richards Blut und auch sein Leben hinaus.
    Christian stöhnte vor Schmerz und warf sich heftig hin und her.
    Richards Erinnerungen fielen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
    „Soll ich aufhören? Ist es zu viel? Sind deine Schmerzen zu groß?“, fragte er alarmiert.
    „Nein“, stieß Christian hervor. Seine Augen glänzten. „Mach weiter.“
    Richard lag auf dem schmutzigen Asphalt zwischen den Metallpfeilern der Hochbahn, über die gerade ein Zug der Linie 1 hinwegdonnerte. Er betrachtete die Scherben einer Bierflasche dicht vor seinem Gesicht und wunderte sich über den unangenehmen Geruch nach Urin, der allgegenwärtig war.
    Jemand beugte sich über ihn und Richard blinzelte. Er fühlte nichts, keine Schmerzen und keine Kälte. Erst langsam fing er an zu begreifen, und endlich schlug die Angst mit der Wucht eines Hammers auf ihn ein. „Hilf mir.“ Seine Stimme brach.
    Der Mann schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war im Schatten. „Es ist zu spät.“ Die Stimme war einnehmend. Auffällig. Unter anderen Umständen hätte er ihr gern zugehört.
    „Notarzt.“ Richard brachte in seinem Entsetzen nur ein einziges Wort hervor. Er brauchte dringend Hilfe. Dieser Kerl, der jetzt so ruhig neben ihm hockte, konnte ihn doch nicht einfach sterben lassen. Er versuchte, den Mann am Revers seiner schwarzen Lederjacke zu packen, doch seine Hände waren schon viel zu schwach, um Halt zu finden. Ihm wurde kalt. „Bitte. Die Telefonzelle …“
    Der Mann richtete sich auf, fasste ihn um die Taille, um ihn vorsichtig tiefer in die Dunkelheit zu ziehen, und Richard fehlte die Kraft, um zu protestieren. Kühle Finger berührten seine Verletzungen und drückten fest zu, sandten einen

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