Novembermond
behutsam die Locken auf Christians Brust streichelte, nahm Richard das Gespräch wieder auf. „Wegen dir, meine ich. Mir fehlt es an Stärke und Erfahrung. Ich habe erst die zweite Stufe des Arkanums durchlaufen. Was, wenn etwas schiefginge? Das könnte ich mir nie verzeihen. Julian sollte dich wandeln. Alle wollen das, falls er damit einverstanden ist. Der Übergang ist sehr schmerzhaft, und Julian ist so machtvoll, dass er ihn erträglicher macht. Davon abgesehen vermittelt er Kraft und Stärke wie kein anderer.“ Richards Tonfall wurde heftiger. „Andererseits: zu wissen, dass er dich wandelt und du mit ihm zusammenliegst, ich weiß nicht, ob ich das ertragen könnte.“
Richards Eifersucht war schon mehr nach Christians Geschmack, trotzdem hasste er Julians Einfluss auf Richard. Aber Julian hatte Richard gewandelt, und das war der größte Einfluss überhaupt.
Noch immer floss sein Blut in Richards Adern.
Zugegeben, Julian war außerordentlich attraktiv. Was untertrieben war. Denn leider war Julian fantastisch. Obwohl er eigentlich gar nicht seinem Typ entsprach. Außerdem mochte Julian nur Frauen. Wenn die Dinge anders wären … Christian wusste, dass er mehr als empfänglich wäre, wenn sich Julian tatsächlich für ihn interessierte. Aber das tat er nicht, im Gegenteil.
Bei den wenigen Begegnungen hatte sich Julian ihm gegenüber nie anders als gleichgültig, distanziert und kühl verhalten, obwohl er schon so lange mit Richard zusammen war. Im Krankenhaus hatte er jedoch Julians volle Aufmerksamkeit und seine Verachtung deutlich zu spüren bekommen. Und seine unglaubliche Macht, als er seinen Körper in Besitz nahm, um den Dämon auszutreiben und zu töten. Seine Kraft war wie eine eisige Flamme in ihn eingedrungen, in jede Zelle seines Inneren, unglaublich qualvoll, ohne dass Julian ihn auch nur mit den Fingerspitzen berührte. Dabei hätte er ihm alles entreißen können, all seine Geheimnisse und Gedanken, sogar sein Leben.
Das war Rettung, Vernichtung, Bestrafung und Erlösung gleichzeitig, und die Erinnerung daran so bedrohlich, dass Christian sie schnell beiseiteschob. Er wusste genau, dass er Julians Hilfe Richard verdankte. Aber Julian hatte sich keine Mühe gegeben, irgendetwas für ihn leichter und erträglicher zu machen, als er den Dämon vernichtete. Obwohl er es bestimmt gekonnt hätte. Zudem war Julians Einfluss als Anführer der Gemeinschaft so groß, dass die Vampire des Inneren Kreises sein Verhalten kopierten. Anders konnte es nicht sein, sonst würden ihm die älteren Vampire nicht so viel Ablehnung entgegenbringen. Wie arrogant sie alle waren. Ungerecht. Und gleichzeitig unendlich attraktiv und begehrenswert. Dabei war außerhalb der Gemeinschaft alles anders. Jeder mochte ihn. Männer und Frauen, egal wie alt und mit welcher sexuellen Ausrichtung. Alle. Immer. Nur Julian und die wirklich mächtigen Vampire gaben ihm keine Chance. Das empörte Christian über alle Maßen, denn so etwas verdiente er nicht.
Aber seine Zeit würde kommen, denn Richard liebte ihn.
Christian lächelte. Die Gelegenheit war günstig.
„Was ist mit deiner eigenen Wandlung?“, fragte Christian feierlich. „Willst du mich jetzt endlich an deinen Erinnerungen teilhaben lassen? Hier und jetzt?“
Richard hatte ihm die Geschichte seiner Wandlung bereits erzählt, doch sein Liebhaber verfügte noch über ganz andere Möglichkeiten als die des Wortes. Seine vampirischen Fähigkeiten. Richard war irgendwie dazu in der Lage, Christians Geist aus seinem Körper herauszukatapultieren und in sich hineinzuziehen. Er hatte ihn schon einige Male an dieser Erfahrung teilhaben lassen, und sie war das Tollste überhaupt.
Sich verlieren, hinaufgezogen auf den Gipfel einer Woge aus Macht.
Was nur ein schwacher Erklärungsversuch bedeutete für alles, was Christian erlebte, denn bei dieser Vereinigung konnte er spüren, was Richard spürte, seine Sinne teilen mit einer glühenden Intensität und Kraft, die er nie für möglich gehalten hätte. Sich so erleben, wie es sein sollte.
Wie ein Vampir.
Danach, wenn es vorbei war, fühlte sich Christian ausgehöhlt, erschöpft, wie nach einem besonders intensiven Drogentrip. Aber auch wenn ihn diese Erfahrung jedes Mal umhaute – es lohnte sich immer. Denn gegen die Intensität der Wahrnehmung eines Vampirs, diesen uferlosen Ozean aus Licht- und Klangfarben, war selbst ein Drogentrip nur wie ein langweiliger Stummfilm in Schwarz-Weiß.
Und mit Richard die Erinnerung an
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