Novembermond
keine Vorwürfe wegen der Gefährlichkeit seines Blutdursts, sodass er es schaffte, ruhig zu bleiben und die zerstörerische Wut, die so häufig an ihrem Gitter rüttelte, zu bändigen.
„Es ist müßig, Julian seinen Einsatz und seine … Hingabe vorzuwerfen. Jetzt, wo er nach all diesen Jahren zum ersten Mal in Schwierigkeiten steckt“, ließ sich plötzlich Oliver vernehmen.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Andrej scharf.
„Genau das, was ich gesagt habe. Nicht mehr und nicht weniger“, meinte Oliver gemütlich, aber seine Augen glänzten.
Julian beobachtete die Szene. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit zögerte er, einzugreifen. Wie seltsam, nur zuzuhören. Dies auszuhalten fiel ihm schwer, aber noch schwerer würde es ihm fallen, zwischen Oliver und Andrej zu schlichten und auszugleichen. Er war nicht sicher, ob er es diesmal konnte. Zorn und Erschöpfung wären alles andere als hilfreiche Mittel.
Julian spürte Pierres Blick. Sein Gesicht war ernst, sein Lächeln verständnisvoll. Das überraschte ihn, und er erwiderte es kurz.
Eigentlich hatte Oliver nicht unrecht. Allerdings fällte er seine Entscheidungen allein. Und damals, noch in der Nacht des großen Durchbruchs, lautete seine Entscheidung, die Aufgaben von Sebastian ab sofort selbst zu übernehmen und die von Damian gleich mit. Seitdem hatte er nichts davon abgegeben.
Der Streit, der sich zwischen Andrej und Oliver anbahnte, hing bereits deutlich in der Luft. Julian schloss kurz die Augen. Zornige, aufgeladene Energie wirbelte zwischen beiden hin und her. Er nahm die Strömungen in sich auf, spürte, wie sie seine eigene Wut entfesselten, und kämpfte dagegen an. Er sollte aufstehen und gehen, aber er fühlte sich wie gelähmt.
„Vielleicht wäre es sinnvoll, diese Diskussion mit Rücksicht auf Julian zu verschieben“, sagte Pierre im Plauderton. „Oder erwartet ihr, dass er auch in diesem Streit vermittelt? Und eure Konflikte löst? Oder ist es im Gegenteil eure Absicht, ihn so weit zu bringen, dass er gleich über uns herfällt?“
Die Energie im Raum veränderte sich sofort. Sechs Gesichter wandten sich Julian zu, und für einen Moment herrschte bestürztes Schweigen.
„Danke für deine Unterstützung“, meinte Julian trocken. „Aber ich glaube, es wurde schon genug gesagt. Ohnehin ist es Zeit, unser Treffen zu beenden.
Moment …“ Julian spürte eine Präsenz, die ihn suchte, runzelte die Stirn und wehrte sie ab. Er fühlte sich weder in der Verfassung noch in der Stimmung für Dinge, die nicht wirklich wichtig waren.
Aber es ist wichtig, Julian, beharrte Georg würdevoll. Ich habe den Anruf bereits eing e leitet.
Im gleichen Moment klopfte es, und Achim überbrachte ihm das Telefon.
„Kann das nicht warten?“, fragte Julian erstaunt.
„Gerade waren zwei Herrschaften hier. Von der Polizei“, sagte Georg in seiner sorgfältigen Art. „Selbstverständlich habe ich in Erfahrung gebracht, warum sie Euch sprechen wollten.“
„Und was wollten sie?“
„Man hat die Leichen von zwei jungen Frauen gefunden“, sagte Georg bekümmert. „Sie gehören zu diesen Alexanderplatz-Opfern. Ermordet und mit schlimmen Verletzungen am Hals. Die eine hat als Zimmermädchen im Aeternitas gearbeitet, die andere an der Garderobe.“ Georg zögerte. „Man hat Euch … genauer gesagt, der Parkwächter hat Euch mit beiden Frauen gesehen. Die Polizisten werden morgen wiederkommen. Ich habe ihnen die Idee eingegeben, dass das Gespräch bis morgen Zeit hat und ein erneuter Besuch in den Abendstunden am besten ist.“
„Danke, Georg“, sagte Julian ruhig. „Ich werde zu Hause sein und mit ihnen sprechen.“ Er unterbrach die Verbindung. Seine Finger fuhren nachdenklich über das glatte Holz des Besprechungstisches, während er versuchte, Georgs Informationen zu begreifen und einzuordnen. Langsam rückte sich alles zurecht. Magda. Und Jenny. Das konnte kein Zufall sein.
Julian hatte viele Feinde. Gregor gehörte vielleicht nicht zu den mächtigsten, aber in seiner unberechenbaren Brutalität eindeutig zu den gefährlichsten, auch wenn er es nie wagen würde, ihn in einem direkten Kampf herauszufordern.
Die Alexanderplatz-Opfer. Gregor versuchte nicht nur, eine neue „Familie“ zu gründen, sondern auch, ihm die Leichen unterzuschieben.
Julian wusste, Blutdurst und mangelnde Beherrschung hatten ihn inzwischen so sehr im Griff, dass er gegen jede ungeschriebene Regel der Gemeinschaft verstieß und die Beute in seinem
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