Novembermond
endlich und vollständig zu unterwerfen. Er senkte den Blick und schaffte es, die zerstörerische Wut, die schon wieder Macht über ihn gewinnen wollte, zurückzudrängen. Dabei bemerkte er, dass er seine rechte Hand unter dem Tisch zur Faust ballte. Er erstarrte. Für seinen Zorn gab es keine berechtigte Grundlage, das wusste er. Seit Pierre vor etwas mehr als zweihundert Jahren nach einer gefährlichen Flucht durch Frankreich, die Niederlande und Deutschland bei der Gemeinschaft in Berlin Schutz finden konnte, war sein Verhalten nie anders als achtbar und ehrenvoll.
Julian sammelte seine Kräfte, konzentrierte sich und hielt die Maske der Stärke aufrecht. Dabei spürte er Schweißtropfen, die einen Weg zwischen seinen Schulterblättern nach unten fanden. Mühsam versuchte er, seinen verkrampften Körper zu lockern. „Ich werde mich also in zwei Nächten zurückziehen und dem Arkanum überlassen. Andrej, du bist dann allein für die Nacht-Patrouille verantwortlich. Sam wird die Stiftung übernehmen. Achim das Aeternitas, ich werde noch mit ihm reden. Jack verwaltet die Clubs ohnehin allein. Gibt es noch Fragen?“
Niemand sagte etwas, und niemand sah ihn an.
Julian schüttelte den Kopf. Das Ausmaß an Unausgesprochenem war zu viel für seine Ungeduld. „Andrej?“
Andrej wandte ihm endlich das Gesicht zu, der Blick seiner blauen Augen ein einziger Vorwurf. „Verdammt, Julian. Ich habe es gewusst. Ich meine, ich habe nicht genau gewusst, was mit dir los ist, aber ich habe gemerkt, dass du nicht in Ordnung bist. Wenn du schon nicht mit mir hast reden wollen – obwohl ich mich immer für deinen Freund gehalten habe – warum dann nicht mit jemand anderem? Warum hast du es so weit kommen lassen?“
Nun lag es endlich auf dem Tisch.
„Es gab Termine. Wichtige Angelegenheiten, um die ich mich kümmern musste.“ Dass Armando und Sonya ebenfalls dazugehörten, behielt er für sich. „Aber du hast recht“, meinte er kühl. „Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen. Das war ein Fehler.“
„Ein Fehler? Natürlich war es ein Fehler“, meinte Andrej verärgert. „Hast du denn kein Vertrauen? In keinen von uns? Du bist seit Wochen wie ein Pulverfass, das kurz vor der Explosion steht. Trotzdem sagst du uns erst jetzt, was mit dir los ist. Du bist uns immer ein Vorbild gewesen. Aber diese Nummer hier ist absolut verantwortungslos.“
Julian wusste, dass Andrejs Kritik mehr als berechtigt war. Trotzdem überlegte er erneut, ob sein Eingeständnis der Schwäche nicht doch zu voreilig war. Aber jetzt konnte er ohnehin nicht mehr zurück.
„Falls der Innere Kreis eine Bestrafung für angemessen hält und einfordert, bin ich selbstverständlich bereit, mich ihr zu unterwerfen.“
Andrej schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass es darum nicht geht, Mann. Überhaupt nicht. Aber ich bin verdammt enttäuscht. Und sauer. Als könntest du nicht zulassen, dass dir einer von uns zu nahe kommt. Du kümmerst dich um alles und jeden, nur nicht um dich selbst. Du hast dir viel zu viel aufgeladen. Immer schon, und das muss endlich aufhören. Auch du hast Grenzen.“
Armando sog heftig die Luft ein, als wollte er etwas hinzufügen, aber dann schien er es sich anders zu überlegen und hielt sein Schweigen bei.
„Ja. Ich habe meine Grenzen gespürt“, gab Julian widerwillig zu. Für einen Moment fühlte er nichts, war starr, empfindungslos und froh darüber. Dabei bemerkte er, wie ihm das Trugbild der Kraft langsam und endgültig entglitt, und konnte es endlich zulassen. „Ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Ich werde … wie sagt man? Kürzer treten, in Zukunft mehr Verantwortung delegieren.“ Julian hörte sich sprechen, war gleichzeitig verunsichert und erleichtert. „Bei unserem nächsten Treffen nach meinem Arkanum werden wir die Einzelheiten festlegen und die Aufgaben gemeinsam verteilen.“ Fast erstaunt hielt er inne, als erwartete er Widerspruch.
Pierre nickte kaum merklich, Olivers Augen schlossen sich kurz, ein Zeichen seiner Zustimmung.
„Gut. Aber wage nicht zu behaupten, dass damit alles erledigt und in Ordnung ist“, schnaubte Andrej.
Julian sah Andrej an. „Nein. Nein, das tue ich nicht“, sagte er leise. „Ganz und gar nicht.“
„Außerdem siehst du echt Scheiße aus.“
Julian nickte nur. Langsam entspannte er sich. Das war glimpflicher abgelaufen, als erwartet. Niemand hatte ihn zu einer Entscheidung gedrängt oder versucht, ihm Vorschriften zu machen. Keine Anklagen,
Weitere Kostenlose Bücher